Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nevada Barr
Vom Netzwerk:
Informationen hoffte man, die genaue Anzahl der Bären sowie die Entwicklung der Population, Wanderwege und Bewegungsmuster ermitteln zu können. Die Fallen dienten dem Zweck, jedem einzelnen Bären im Park die Möglichkeit zu geben, sich mitzählen zu lassen.
    »Wir werden fünf Tage lang unterwegs sein«, fügte Joan hinzu. »Morgen in aller Früh geht es los.«
    Eine Weile betrachteten die drei wortlos die Karte, als würde sie jeden Moment ihre Geheimnisse preisgeben.
    »Hey«, brach Joan das Schweigen. »Vielleicht treffen wir ja deine Leute, Rory.«
    Das Schnauben des jungen Mannes, ein kleiner Luftschwall aus geblähten Nüstern, sprach Bände, was seine – offenbar nicht sehr positive – Einstellung zu einem Treffen mit seinen Eltern anging. Anna musterte ihn aus dem Augenwinkel. Der Flaum auf seinen Wangen war anscheinend erst vor Kurzem einem Bart gewichen, der so hell war, dass er abends eher funkelte als Schatten warf. Sie schätzte Rory auf siebzehn oder achtzehn. Wahrscheinlich war es sein erstes großes Abenteuer fern von zu Hause. Und nun hatten Mom und Dad einen Weg gefunden, sich an seine Fersen zu heften.
    »Was machen deine Eltern denn hier?«, erkundigte sich Anna, um festzustellen, ob sie mit ihrer Vermutung richtig lag, und lauschte mit einer Miene, die Uneingeweihte als harmlos eingestuft hätten.
    »Mom und Dad zelten eine Woche lang im Fifty Mountain Camp. Mom hatte das plötzliche Bedürfnis, zur Natur zurückzukehren.«
    »Was für ein Zufall«, stichelte Anna, neugierig, wie er reagieren würde. Wenn man schon teuflisch stank, konnte man genauso gut teuflisch gemein sein.
    »Mom ist irgendwie …« Rorys Stimme erstarb. Anna konnte keine Böswilligkeit heraushören. Er wirkte eher genervt. »Sie hat einen Familientick und möchte, dass alle zusammen sind. Sie weiß nämlich, dass sie mich sonst kaum zu Gesicht kriegt. Wenn überhaupt. Aber ihr fällt ja immer etwas ein, sich zu amüsieren. Und Les musste natürlich hinterhertrotten.«
    Inzwischen klang er gehässig. Für einen so jungen Menschen sogar sehr.
    »Les?«, hakte Anna interessiert nach, weil es ihr nun einmal im Blut lag.
    »Mein Dad. Carolyn ist meine Stiefmutter.«
    Hätte Anna aus irgendeinem unerklärlichen Grund beschlossen, die Welt mit ihrem Nachwuchs zu bevölkern, wäre es sehr kränkend für sie gewesen, wenn ihre Kinder in einem Ton über sie gesprochen hätten wie Rory über seinen Dad. Und dass er für seine Stiefmutter freundlichere Worte fand, hätte noch zusätzlich Salz in die Wunde gerieben.
    »Ich bezweifle, dass wir sie auch nur aus der Ferne sehen werden«, meinte Joan. »Diese winzige Karte hier bildet ein ziemlich großes Gebiet ab, wenn man zu Fuß unterwegs ist.« Dass Joan das Familienthema beendete, indem sie gewissermaßen eine eiserne Tür zuschlug, weckte in Anna den Verdacht, sie könnte in ihrem anderen Leben Mutter sein. Sofern sie ein anderes Leben hatte. In den achtundvierzig Stunden, die Anna Rand nun kannte, hatte sie sich abgerackert wie eine Frau, die sich von einem Erpresser freikaufen muss. Das hieß nicht, dass ihr Humor und Lebensfreude gefehlt hätten. Aber sie forderte sich, als hätte jemand ihr Sicherheitsgefühl als Geisel genommen, um es nur im Austausch gegen harte Arbeit wieder herauszugeben.
    Eine klassische Arbeitssüchtige.
    Annas Schwester Molly hatte die gleichen Symptome gezeigt, bis sie es beinahe mit dem Leben bezahlt und sich dann, im hohen Alter von fünfundfünfzig Jahren, vielleicht zum ersten Mal, verliebt hatte. Molly war Psychiaterin. Sie hätte Joan erklären können, dass die Menge der Arbeit nie genug sein würde. Doch falls Joan tatsächlich arbeitssüchtig war, würde sie nicht einmal die Zeit zum Zuhören haben.
    Persönlich hatte Anna eine Schwäche für Arbeitssüchtige. Insbesondere, wenn sie ihre Untergebenen waren. Im Grunde genommen erwiesen Menschen, die sich abmühten, um einen Quadratzentimeter Wildnis zu bewahren oder eine Larve der Köcherfliege vor Umweltgiften zu retten, der Gesellschaft einen Dienst. Und falls besagte Gesellschaft dank einer göttlichen Gnade endlich aufwachte, würden diese Retter, Spezies um Spezies, Korallenriff um Korallenriff, Wasserscheide um Wasserscheide, die Welt vor dem Untergang bewahren.
    Anna hatte schon so oft einen Rucksack gepackt, dass sie nicht länger brauchte als ein erfahrener Pilot, um sich auf einen viertägigen Ausflug vorzubereiten. Die fünf Liter Blut und Gedärme waren ordentlich in einem

Weitere Kostenlose Bücher