Blutmusik
rot,
gedämpft; heute hingegen sah der Horizont geradezu elektrisch
aus.
Sie schaltete das Radio an und legte das Ohr an den Lautsprecher.
Um die Batterien zu schonen, hatte sie die Lautstärke
verringert, obwohl sie vermutete, daß es wirkungslos war. Der
englische Kurzwellensender, stets zuverlässig, war sofort da.
Sie verbesserte die Einstellung und kroch tiefer unter die Rohre.
»… die Unruhen in Westdeutschland konzentrieren sich auf
die Forschungseinrichtungen der Pharmek, wo sich Dr. Michael Bernard
aufhält, ein mutmaßlicher Träger der
nordamerikanischen Seuche. Obwohl diese sich außerhalb
Nordamerikas nirgendwo weiter ausgebreitet hat, haben die allgemeine
Nervosität und die daraus resultierenden Spannungen nicht
nachgelassen. Die Sowjetunion hat ihre Grenzen für
Ausländer geschlossen, und…« – der Ton verzerrte
sich, und sie stellte die Skala neu ein – »…
katastrophale Hungersnot in Rumänien und Ungarn dauert nun schon
seit drei Wochen an, und eine Linderung ist nicht in
Sicht…«
»… Mrs. Thelma Rittenbaum, das bekannte Medium aus
Battersea, berichtet von Traumgesichten, in denen Christus mitten in
Nordamerika erschienen sei, die Toten auferweckt und ein Heer um sich
gesammelt habe, um den Rest der Welt zu erobern.« (Eine zittrige
Frauenstimme auf einem Tonband schlechter Qualität sprach ein
paar unverständliche Worte.)
Der Rest der Nachrichten betraf England und Europa; dies gefiel
Suzy am besten von allem, denn bisweilen schien es, daß die
Welt normal sei, oder sich wenigstens erhole. Für ihre Heimat
gab es keine Hoffnung; die hatte sie vor Wochen aufgegeben. Aber
andere Völker konnten ein normales Leben führen. Daran zu
denken, war tröstlich.
Nicht, daß jemand irgendwo von ihr gewußt oder sich um
sie gekümmert hätte.
Sie schaltete das Radio aus, rollte sich enger zusammen und
lauschte dem Zischen der Flüssigkeit, die in den Röhren
strömte, und leisem, tiefem Ächzen aus den Tiefen des
Untergrunds.
Sie schlief, umgeben von Schwärze, im Schein vereinzelter
Sterne, die tröstlich zwischen den Umrissen der Röhren vom
Himmel blinzelten. Und als sie mitten in einem warmen Traum über
einen Kleidereinkauf erwachte…
Etwas wurde um sie gewickelt. Sie strich schläfrig
darüber: weich wie Samt, warm. Sie tastete nach der Taschenlampe
und leuchtete auf ihre bedeckten Beine und Hüften. Die Decke war
anschmiegsam, hellblau mit unbestimmten grünen Streifen –
ihre Lieblingsfarben. Wo sie nicht zugedeckt war, fröstelte sie.
Sie war zu schläfrig, um sich Fragen zu stellen; sie zog die
Decke höher und glitt zurück in ihre Träume. Diesmal
war sie ein kleines Mädchen und spielte mit früheren
Freundinnen auf der Straße, Freundinnen, die inzwischen
herangewachsen und in vielen Fällen fortgezogen waren.
Dann wurden die Gebäude eines nach dem anderen abgerissen.
Sie sahen zu, wie Männer mit riesigen Schmiedehämmern
daherkamen und das alte braune Backsteinmauerwerk zerschlugen. Sie
wandte den Kopf um zu sehen, wie ihre Freundinnen reagierten, und sie
waren alle erwachsen oder sogar alt geworden, wichen von ihr
zurück und winkten und riefen ihr, sie solle ihnen folgen. Sie
begann zu weinen. Ihre Schuhe klebten am Pflaster, und sie konnte
keinen Schritt tun. Als alle Gebäude verschwunden waren, war das
Viertel ein eingeebneter Platz, wo die Rohre der Wasserleitungen in
die Luft ragten, wo in der Höhe eines oberen Stockwerks eine
Toilette auf einem Abflußrohr balancierte.
»Die Dinge werden sich wieder ändern, Suzy.« Ihre
Schuhe kamen los, und sie wandte sich um und sah Cary, in peinlicher
Nacktheit.
»Meine Güte, ist dir nicht kalt?« fragte sie.
»Ach nein, es kann dir nichts ausmachen. Du bist bloß ein
Geist.«
»Na ja, vielleicht«, sagte Cary lächelnd. »Wir
alle wollten dich bloß warnen, weißt du. Es wird sich
alles wieder ändern, und wir wollten dir die Wahl
lassen.«
»Ich träume nicht, oder?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wir sind in der Decke. Du
kannst mit uns sprechen, wenn du wach bist.«
»In der Decke… ihr alle? Mama und Kenny und
Howard?«
»Und viele andere mehr. Dein Vater, wenn du mit ihm sprechen
willst. Es ist ein Geschenk«, sagte er. »Eine Art
Abschiedsgeschenk. Wir meldeten uns alle freiwillig, aber
schließlich gibt es viel mehr von mir und all den anderen, als
wir genau genommen benötigen.«
»Ich verstehe nicht, was du sagen willst, Cary.«
»Du wirst es schon schaffen. Du bist ein starkes
Mädchen,
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