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Blutrose

Blutrose

Titel: Blutrose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margie Orford
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Nebel ließ alles zweidimensional wirken, bleichte die Details aus der Landschaft. Tamar stand wieder auf und wartete darauf, dass der Nebel ausdünnte und die blutarme Sonne ihre kurzlebigen Schatten auswarf. Als es so weit war, konnte sie die Zeichen gerade noch erkennen. Sie waren so schwach, dass sie kaum wahrzunehmen waren: abgeknickte Grashalme, die in die gleiche Richtung zeigten, ein Abdruck auf dem salzverkrusteten Sand, so schwach wie ein Handabdruck auf Glas. Sie stellte den Kontrast an der Kamera höher ein und schoss Bilder, bis sich die Sonne wieder verzog. Dann löste sie die Rolle mit dem gelben Absperrband, das ihr van Wyk gebracht hatte, von ihrem Gürtel und tastete in derselben Bewegung nach der Dienstpistole, die unter ihrem runden Bauch hing. Nachdem sie sich rückwärts in ihren eigenen Schuhabdrücken zurückgezogen hatte, sperrte sie das Gelände mit Band ab und war gerade damit fertig, als das Handy läutete.
    Sie brauchte nicht erst die Nummer vom Display abzulesen. »Helena?«, meldete sie sich.
    »Was ist denn?«, fragte Helena Kotze. »Noch eine Messerstecherei?« Die Arbeit in der Hafenstadt hatte das Herz der jungen Ärztin verhärtet.

    »Ich wünschte fast, es wäre eine«, antwortete Tamar. »Aber es ist schon wieder ein toter Junge.«
    »So wie bei den anderen?«
    »Sieht so aus.« Tamars Stimme stockte. »Jung. Vielleicht vierzehn. Diesmal auf einer Schaukel in der Schule an der 11th Street. Sieht aus, als wäre eine Kugel in die Stirn eingedrungen. Reste von Fesseln an beiden Handgelenken. In ein schmutziges Laken eingehüllt.«
    »Wurde er dort getötet?«, fragte Helena.
    »Nein. Keine nennenswerten Blutspuren. Nichts auf dem Boden. Außerdem riecht er, als wäre er schon ein paar Tage tot.«
    »Ich bin gerade mitten in einer Operation. Ich kann frühestens in einer guten Stunde kommen. Kannst du die Vorarbeiten übernehmen?«
    »Ich wollte gerade damit anfangen. Deine Leute sind hier. Wir sprechen uns später.«
    Tamar sah zu den zwei Helfern aus dem Leichenschauhaus hinüber, die am Tor lümmelten. Die beiden Willems, wie Tamar sie gern nannte. »Wie geht’s, Jungs?«, begrüßte sie die beiden.
    »Cool. Und Ihnen?«, murmelte der größere Willem. Seine Haut war nach einer hastigen Rasur gerötet.
    »Geht schon«, antwortete Tamar. Sie schüttelte zwei Beutel zur Beweissicherung auf.
    »Wer ist es?«, fragte der andere Willem.
    »Wissen wir noch nicht«, sagte Tamar. »Noch haben wir ihn nicht identifiziert.«
    Die beiden Willems schoben die Hände in die Taschen und zogen die Schultern zusammen wie zwei durchnässte Krähen. »Warum so schlecht drauf?«, fragte Tamar.
    Sie zuckten die Achseln. Der größere Willem zündete sich eine Zigarette an. Tamar wusste, dass sie nicht wegen des toten Jungen eine solche Trostlosigkeit ausstrahlten. Das Paar
arbeitete schwarz für Human & Pitt, das erfolgreichste Unternehmen im florierenden Bestattungsgewerbe von Walvis Bay. Der Bestatter zahlte ihnen einhundert Namdollar bar auf die Hand, wenn er als Erster zu einer frischen Leiche gerufen wurde, vorausgesetzt, er verdiente etwas daran. Für einen drei Tage alte Leichnam, den niemand vermisst gemeldet hatte, lohnte es sich kaum, schon am Montagmorgen einen Anzug anzulegen.
    Sie schauten lustlos zu, wie Tamar zu dem Jungen zurückging und die Schaukel zwischen den Streben und ihrem Knie festklemmte. Der Gestank der Verwesung umhüllte den Leichnam wie eine Aura. Noch ein Tag, und der Geruch wäre nicht mehr auszuhalten gewesen. Tamar holte tief Luft und stülpte zwei Beweissicherungsbeutel über die mit Nylonseilen gefesselten Hände. Die Schuhe des Jungen waren mit feinem Sand bedeckt. Sie besah sich die Wunde in seinem Kopf. Sie wimmelte von Maden. Zwei, vielleicht drei Tage im Lebenszyklus der Schmeißfliege, schätzte Tamar.
    Bänder fesselten die Arme an die Knie, doch das Laken hatte sich gelockert und war herabgerutscht. Wo das übergroße Hemd des Jungen aufklaffte, waren große, blutige Fleischwunden zu sehen. Tamar schob die wimmelnde Masse von fressenden Maden beiseite und vergaß über ihrer Arbeit die Übelkeit. Sie leerte die Taschen des Jungen. Dem Paar am Tor traute sie nicht. Falls der Tote irgendetwas von Wert bei sich trug, wäre es verschwunden, bis der Leichnam auf der Bahre im Leichenschauhaus landete.
    In einer Hosentasche fand sie nicht mehr als einen schwarzen Kiesel. Tamar hielt ihn in der Hand. Sie konnte nachvollziehen, warum der Junge ihn aufgehoben hatte.

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