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Blutrot

Titel: Blutrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack Ketchum
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Lachen. So hatte er sie im Krieg lachen gehört, nachdem sie ihr Herz und ihre Seele verloren hatten.
    Der alte Mann sagte nichts.
    Er blickte auf die leere Patronenhülse am Boden, dann schaute er wieder zur Schrotflinte zurück, die noch immer auf ihn zielte.
    »Vergiss nicht, das nächste Mal mehr Geld mitzunehmen. Dann passiert dir so was vielleicht nicht noch einmal, Opa.«
    Der Junge drehte sich zu seinen Freunden um.
    »Verschwinden wir«, sagte er.
    Die beiden sahen aus, als wäre ihnen nichts lieber.
    Das magere Bürschchen war kreidebleich, sogar dem Dicken stand das Unbehagen ins Gesicht geschrieben. Der Junge mit der Schrotflinte schien es nicht zu bemerken.
    »Wir wollen deine verdammten Schlüssel nicht«, sagte er. »Für zwanzig Dollar machen wir uns nicht solche Mühe. Heute ist dein Glückstag. Und lass dir bloß nicht einfallen, uns zu verfolgen. Dann bleibt es auch dein Glückstag.«
    Der alte Mann nickte. »Du hast immer noch das Gewehr.«
    »Stimmt. Ich hab immer noch das Gewehr.«

    Der Junge blickte auf den Hund und fing wieder zu lachen an. »Meine Fresse! Red ist ja voll rot!«, brüllte er. Im nächsten Moment lachte auch der Dicke los und schüttelte den Kopf, als wäre sein Freund hier ein bisschen verrückt. Auf unsichere Weise stimmte jetzt sogar der Junge im gelben T-Shirt mit ein, obwohl er nicht mit dem Herzen dabei zu sein schien.
    Das war heute dein zweiter Fehler, mein Sohn, dachte der alte Mann. Der erste war, mit den beiden überhaupt hergekommen zu sein.
    Er hörte, wie sie lachend über den Hügel davonmarschierten. Hörte sie noch, als man sie längst nicht mehr sah.
    Als er sicher war, dass sie nicht umkehren würden, bückte er sich, hob die Patronenhülse auf und steckte sie ein.
    Dann ging er zu seinem Hund.
    Einen langen Moment betrachtete er ihn und überlegte. Er zog sein Hemd aus und legte es dem Hund um den zerschmetterten Kopf, hob den Leib an, schob das Hemd darunter und wickelte ihn darin ein. Mit der Hand, die der Hund immer so aufmerksam und voller Neugier beobachtet hatte, strich er ihm über den Rücken und die warmen Flanken. Als er die Hand zurückzog, war sie rot besudelt.
    Der Junge hatte sich darüber lustig gemacht.
    Mary hatte ihm den Hund zum 53. Geburtstag geschenkt.

    Es war ein guter Hund gewesen. Ein verdammt guter. Sein Körper war noch warm.
    Er erhob sich, klappte den Deckel des Angelkastens zu und verschloss ihn, sammelte Rute und Kühlbox ein und trug alles zu der Stelle, wo der Hund lag. Er knotete die Hemdsärmel um dessen blutverschmierten Hals, hob den Hund an und klemmte ihn sich behutsam unter den Arm. Mit der anderen Hand nahm er Rute, Angelkasten und Kühlbox und ging los.
    Der Hund wurde sehr schwer.
    Zweimal musste er stehen bleiben und sich ausruhen, aber den Hund ließ er nicht los. Er stellte nur die Sachen ab, hockte sich hin und legte ihn sich vorsichtig auf den Schoß, hielt ihn fest, atmete den vertrauten Geruch des Fells und den frischen Duft des Blutes.
    Als er zum zweiten Mal stehen blieb, weinte er schließlich um seinen Verlust und um die lange schöne Vergangenheit, die sie miteinander geteilt hatten. Mit der Faust schlug er währenddessen auf die karge Erde ein, die sie hierher geführt hatte.
    Dann machte er sich wieder auf den Weg.

2
    Der alte Mann, dessen Name Avery Allan Ludlow war, fuhr den Hügel zum Haus hinauf und überlegte, dass der Junge mit einem recht gehabt hatte.
    Er besaß nicht viel.
    Ihm gehörten der Laden und das Haus und die beiden kleinen Grundstücke, auf denen die Gebäude standen. Das war alles.
    Das Haus war schon über hundert Jahre alt gewesen, als er und Mary es damals in den Siebzigerjahren zusammen mit etwas über einem halben Hektar Land für gerade mal 20.000 Dollar gekauft hatten. Der Grund für den günstigen Preis war das Dach, auf dem es an zwölf verschiedenen Stellen durchregnete. Das eingedrungene Wasser lief durch den Boden der von Fledermäusen kolonisierten Dachkammer bis in die Küche, die drei kleinen Schlafzimmer und ins Wohnzimmer hinab, die ebenfalls allesamt eine beträchtliche Mäusepopulation beherbergten. Aber er mochte die handgezimmerten Eichenbalken unter den Decken und die große, im antiken Stil gebaute
Küche mit dem Kanonenofen in der Mitte, der offenkundig den Mittelpunkt des Geschehens im Haus bildete. Mary empfand genauso wie er. Es dauerte ein Jahr, bis er das Dach und die Decken so weit repariert hatte, dass fortan weder Regen noch Fledermäuse eindringen

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