Blutsbraeute
zusammengerückt, als wollten sich die Menschen gegenseitig versichern, dass sie am Leben waren.
Beim Anblick des toten Mädchens gefror Clare das Blut in den Adern. Eine Locke des schwarzen Haars wehte im Wind, bevor sie sich auf die zarte Schulter legte. Clare glitt zurück in ihren Albtraum. Es kostete sie eine ungeheure Willensanstrengung, sich in die Gegenwart zurückzuholen. Zu dieser Leiche. Hier. Heute. Dann schaltete ihr Verstand auf die geübte Beobachterin um, und alle Emotionen waren verschwunden. Sie musterte den Liegeplatz der Leiche, registrierte jedes Detail mit forensischer Präzision.
Ihr fielen die schwachen Spuren an den nackten Armen auf, Blutergüsse, die keine Zeit gehabt hatten, sich voll zu entwickeln. Die rechte Hand des Mädchens war seltsam verschnürt, in einen bizarren Fetisch verwandelt. Sie war ihr kokett auf die Hüfte gelegt worden. Etwas glitzerte in der Hand des Mädchens, reflektierte die flachwinkligen Sonnenstrahlen. Ihre Stiefel waren so hochhackig, dass sie nur mühsam hätte gehen können. Aber sie ging nirgends mehr hin, nicht mit dem durchgeschnittenen schlanken Hals.
Clare schaltete instinktiv die Handykamera ein und schoss schnell eine Reihe von Bildern. Sie überhörte das entrüstete Gewisper und zoomte auf die Hände des Mädchens, aber ein alter Mann kam heran und deckte das Mädchen zu, bevor Clare ihn daran hindern konnte.
Clare trat beiseite, konzentrierte sich wieder auf ihr Handy und wählte eine Nummer aus ihrem Adressbuch. Geh ran, bat sie lautlos. »Riedwaan«, sagte sie. »Hast du von der Leiche gehört, die in Sea Point gefunden wurde?«
»Wir sind eben erst angerufen worden«, sagte er mit neutraler Stimme.
»Mit der Ambulanz kommt ein Streifenwagen.«
»Du musst kommen, Riedwaan.« Sie spürte sein Widerstreben. Sie hatte ihn seit ihrer Rückkehr nicht angerufen, und jetzt telefonierte sie mit ihm, weil jemand ermordet worden war. »Hier passt nichts zusammen.«
»Was?«, fragte er. Clare warf einen Blick auf die mit einem Mantel zugedeckte Leiche. Beim Anblick der schlanken, leblosen Beine stieg Beklemmung in ihr auf. »Das ist zu akkurat, Riedwaan, zu arrangiert. Und hier ist kein Blut. Für mich siehtâs nicht so aus, als wäre da ein Gefeilsche um den Preis eskaliert.«
»Okay, ich komme hin«, sagte Riedwaan. Er vertraute Clares Instinkt. Ihre Arbeit als Profilerin war schwer zu übertreffen, trotz ihrer unorthodoxen Methoden. Seine Stimme wurde leiser. »Wie gehtâs dir, Clare? Hast uns gefehlt.«
Clare hörte es, erwiderte aber nichts. Sie unterdrückte das Gefühl, das in ihr ansprang, und klappte das Handy zu. Der Morgen fühlte sich noch kälter an.
Hier konnte sie nichts mehr tun. Also zwang sich Clare zum Laufen. Sie brauchte hier nicht herumzulungern und dabei zuzusehen, was mit der Mädchenleiche geschah. Das kannte sie schon. Clare lief drei Kilometer; erst dann verdrängte der Rhythmus ihrer FüÃe auf dem Asphalt das Bild des toten Mädchens aus ihrem Bewusstsein.
Sie versuchte, sich in das Tosen der Brandung zu versenken. Clare wollte nicht an das tote Mädchen auf der StraÃe denken, aber ihre Gedanken kehrten zu der Leiche zurück wie eine Zunge, die immer wieder einen schmerzenden Zahn befühlt. Eine halbe Stunde später
lief sie die Promenade entlang zurück nach Hause. Riedwaans Auto parkte neben der Absperrung um die Mädchenleiche. Jetzt war sie in guten Händen.
Captain Riedwaan Faizals Abscheu gegen Verbrechen an Kindern und Jugendlichen hatte ihm zu einem guten Riecher für Mörder junger Mädchen verholfen. Clare widerstand dem impulsiven Drang, Riedwaan zu sehen. Da er sie in der Menschenmenge auch nicht entdeckte, ging sie nach Hause. In ihrer Wohnung duschte sie als Erstes, dann griff sie mit der raschen Sicherheit einer Frau, die sich zu kleiden weiÃ, nach einem Top, einer Hose, einem Jackett und einem Schal. Der Lokalsender im Radio brachte schon die ersten Meldungen über den grausigen Fund am Morgen. Am Nachmittag würden die Masten der StraÃenlaternen überall in der Stadt mit Meldungen über den Mord beklebt sein.
Clare brachte den Nachrichtensprecher zum Schweigen und setzte sich an den Schreibtisch. Sie sah aus dem Fenster. Der Blick auf das Meer brachte sie wieder ins Gleichgewicht, und nach einer Weile konnte sie sich auf ihre Arbeit
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