Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
verzweifelt bemüht ist, etwas Ordnung in die Luftverhältnisse zu bringen. Die Geräuschkapelle spielt aufopfernd und pausenlos. Bierlagen, freimütig gespendet, belohnen sie. Belohnen sie solange, bis die Trunkenheit der Musiker sich auch bei der Tonwiedergabe erschreckend bemerkbar macht. Dann erst ist es richtig bei Schmidt. Dann ist das ganze Lokal ein brüllender, stampfender Chorus.
Jonny muß seine acht Kameraden aus allen Ecken und Winkeln zusammensuchen, um ihnen zu sagen, daß er eine billige Schlafgelegenheit gefunden hat. Zwei Mark für die ganze Clique. In einem Lagerschuppen in der Brunnenstraße. Für zwei Mark läßt der Wächter sie um zehn Uhr in den Schuppen. Aber um sechs Uhr morgens müssen sie wieder auf die Straße. Stroh und große Kisten, in die man sich hineinlegen kann, sind genügend vorhanden. Um halb zehn Uhr macht die Clique sich auf den Weg.
Als es zehn Uhr schlägt, sind sie alle in der Nähe ihrer Schlafstelle. Drei stehen vor dem Tor. Die anderen warten nebenan im Hausflur, um, sowie der Wächter das Tor öffnet, hineinzuflitzen. Noch ehe sie den Wächter hören, schnauft und knurrt es wütend hinter dem Tor. Der Wachhund. Dann wird aufgeschlossen, nacheinander schleichen alle in den dunkeln Torweg. Der Wächter schließt wieder ab. Die Dogge jault vor Wut und Enttäuschung. Sie begreift ihren Herrn nicht. Sonst muß sie jedem in die Beine fahren, und hier, bei diesem Haufen höchst verdächtiger Individuen, wird ihr das Stachelhalsband kurz gehalten. Der Wächter schlurft voran mit dem böse funkelnden Hund. In respektvoller Entfernung tappen die Blutsbrüder hinterdrein. Die Tür des niedrigen Holzschuppens wird aufgeriegelt, und Jonny muß seine zwei Mark abladen. Dann tastet der Alte jeden der Jungen einzeln ab. Er sucht nach Streichhölzern und Feuerzeugen. Falls die Bengels auf die Idee kommen sollten, drinnen zu rauchen … Inmitten des Strohes und trocknen Holzes. Könnte ein nettes Feuerwerk geben. Die Dogge versucht nochmals einen Ausfall auf die Jungens. Aber das Stachelhalsband belehrt, daß nur Nichtzahlungsfähige zu zerfleischen sind. Eben sind die Jungens in dem fensterlosen dunklen Schuppen, da schließt der Alte auch schon wieder die Tür von draußen zu. Die freigelassene Dogge schnüffelt erbost an dem Spalt zwischen Erde und Tür. Dann packt sie sich vor die Tür. Die sollen es nur wagen herauszukommen …
Ratlos tasten die Jungens in der Finsternis umher. Ihre Finger hacken in die Nägel der Kistenbretter, und wenn jemand glaubt, einen Platz gefunden zu haben, stürzen plötzlich aufeinandergestapelte Kisten über seinem Haupte zusammen. Als endlich jeder einen Platz in einer Kiste oder auf einer Strohschütte gefunden hat, schlägt es elf Uhr. In wenigen Minuten schläft alles. Nur die Mäuse lamentieren ob der Invasion.
Würde man sie sehen können, die zusammengekrümmten Körper der Jungen in den Kisten und auf dem Stroh, in ihren Betten , gäbe es wohl nur eine Stimme des Mitleides. Der sechzehnjährige Walter mit dem eigenartig spitzen Brustkasten, der das Hemd unheimlich wölbt, die vorstehenden Basedowaugen … Und der gleichaltrige, hochaufgeschossene Erwin, dessen stakige Arme auch nicht den leisesten Muskelansatz zeigen. Oder der stille, ewig träumende Heinz: sein Jackett benutzt er als Kopfunterlage, das Hemd ist ein zerfetztes, schmutziges Lumpenstück. Ludwig, der achtzehnjährige Dortmunder, vor einem Jahr aus der Erziehungsanstalt geflüchtet, hat sich so tief in das Stroh gebuddelt, daß nichts von ihm zu sehen ist und die Mäuse ungehindert über ihn hinweghuschen. Alle sehen sie erbärmlich aus. Nur Jonny bewahrt auch im Schlaf den Ausdruck der Willensstärke, der Furchtlosigkeit.
Kurz nach sechs Uhr morgens stehen sie wieder auf der dunklen Brunnenstraße. Die Kälte, die sie die ganze Nacht nicht verlassen hat, empfinden sie jetzt fast als körperlichen Schmerz. Den schmächtigen Walter schüttelt es so, daß er als haltloszitterndes Bündel in die Mitte genommen werden muß, um ihm durch einen Dauerlauf ein wenig Wärme zu verschaffen. In Gruppen getrennt gehen sie Richtung Alexanderplatz. Ins Mexico . Frühbetrieb ab sechs Uhr morgens. Eine heiße Brühe, und ist sie auch noch so dürftig, kann unendliche Wohltat sein. Die Hände um die Tassen gekrampft, sitzen die Blutsbrüder in einer Ecke und schlürfen Wärme, Wärme …
Lautsprechermusik in einer Tonstärke, die für jede Philharmonie gereicht hätte, von sechs Uhr morgens
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