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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Haffner
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gepreßt. Aber verhauen habe er Herrn Friedrich ganz allein. Warum, Herr Direktor? Wegen der Ohrfeige an meinem zwanzigsten Geburtstag! — Mittags und abends ißt Willi soviel er nur irgend erwischen und verdrücken kann. Wer weiß, wann er wieder was kriegt. Er muß die Nacht durchwandern, um die nächste Fernbahnstation zu erreichen. Dann will er versuchen, mit einer Bahnsteigkarte nach Berlin zu kommen. Zehn Stunden Fahrt. Wie er es anstellen will, im Zug unkontrolliert zu bleiben, weiß er allerdings noch nicht. Nur von seinen sechs Freunden verabschiedet er sich heimlich. Sie geben ihm von ihrem Abendbrot auf den Weg, und der eine oderandere opfert einen Groschen. Willis Barbesitz beläuft sich auf fünfundneunzig Pfennig. Eine Stunde vor der Schlafenszeit wagt er den entscheidenden Schritt. In einer Stunde werden sie merken, daß er getürmt ist; dann muß er weit, weit weg sein. Jetzt müssen die Freunde ihm den letzten Kameradschaftsdienst erweisen. Unter viel Geschrei und Getöse inszenieren sie einen Streit. Von allen Seiten eilen die nervös gewordenen Erzieher und selbst der Direktor in den Aufenthaltsraum. Während die Freunde ganz erstaunt tun, jumpt Willi über die Mauer.
    Bis zum ersten kleinen Ort, zehn Minuten entfernt, muß gerannt werden. Aber dann nicht durch den Ort, sondern drum herum. Nur nicht zu schnell, nur nicht sich gleich ganz auspumpen. Mensch, macht das Spaß, so zu rennen! Zu rennen, immer geradeaus! Nicht gleich wieder beidrehen müssen wie auf dem Anstaltshof. Bei dem ungemütlichen Wetter ist Gott sei Dank kein Mensch auf der Chaussee. Willi rennt mit eingezogenen Armen und vorgestreckten Fäusten: „Eins, zwei, drei, vier …, eins, zwei, drei, vier …“ Junge, ist das fein. Ob die wohl schon was gemerkt haben? Wenn sie bloß nicht einen Erzieher mit dem Fahrrad hinterherschicken … Eins, zwei, drei vier … feste, feste. Jetzt links in den Feldweg einbiegen, rechts liegt die Ortschaft. Ei weh, ist der Boden aufgeweicht, richtige Klumpen hängen an den Schuhsohlen. Was das schon ausmacht! Nun erst recht! Feste, feste!
    Der Ort ist schon weit hinter ihm, jetzt wieder auf die Chaussee. Da läuft es sich doch besser. Rast machen? Nee, lieber noch ’ne Viertelstunde rennen. Junge, Junge, wird das warm. Im Laufen holt er sich eine Stulle aus der Tasche … Patsch, liegt er im Chausseegraben. Ein Auto fegt vorbei. Zum Glück kommt es von vorn. Weiter, weiter. Feste, Willi, feste! Allmählich aber wird die Puste doch knapp. Fünf Minuten Pause, drüben hinter der Hecke. Jetzt eine Zigarette haben … Muß nicht bald wieder ein Dorf kommen? Ob er sich da in die Kneipe traut und fünf Zigaretten kauft? Klar traut er sich! Also hopp, Willi, desto eher haste ’ne Zigarette. Eins, zwei, drei, vier …
    Ein kleines Mädchen bedient in der Kneipe, Willi bekommt seine Zigaretten. Für die erste gönnt er sich langsame Gangart. Aber als der Stummel in den Graben fliegt, setzt Willi zum Spurt an. So ’ne Zigarette ist doch ein Wunderding, die gibt Kraft wie ’n Gänsebraten. Schade, daß man beim Laufen nicht rauchen kann. Aber da pustet der Wind ja alles weg. Da ist das Stäbchen im Nu aufgeglüht. Feste, feste! Jetzt haben sie bestimmt schon Lunte gerochen, zu Hause. Zu Hause? Schönes Zu Hause! War doch immer ein Gefängnis. Er biegt wieder von der Chaussee ab und geht Schritt. Immer so weit von der Chaussee entfernt, daß er sie stets im Auge hat. Tippeln, sparsames Rauchen, Sinnieren, was nun wohl werden wird. Wie komm ich nach Berlin? Wenn sie dich nun im Zug schnappen? Dann ist er morgen wieder in der Anstalt und kommt vors Gericht wegen der Prügel, die Herr Friedrich besehen hat.
    Morgens fünf Uhr ist er, zerschlagen und hundemüde, in der Stadt. Vielleicht warten sie hier schon auf dich, denkt er. Als er sich dem Bahnhof nähert, sieht er lange Reihen abgestellter Güterwagen. Nein, mit dem D-Zug kann er nicht fahren, wo soll er sich zehn Stunden lang verstecken? Auf der Toilette? Die Kontrolleure haben doch Schlüssel und gucken in jeden Lokus. Mit dem Güterwagen muß er fahren. Er schwenkt ab vom Weg. Betritt das menschenleere Bahngelände, ist zwischen den Waggonreihen. Studiert die aufgeklebten Zettel, um zu sehen, wohin der Zug fährt. Aber davon steht nichts drauf. Kurz entschlossen jumpt er auf eine offene, mit einem Segeltuch verdeckte Lore. Holzwolle in Ballen. Zwischen zwei Ballen quetscht er sich, zupft sich eine Kopfunterlage heraus und legt sich nieder. Sollen sie

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