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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Haffner
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Schreien auf: „Mein Geld! Mein Geld!“ Immer wieder kreischt es hysterisch. Unbeschreibliche Erregung löst das Gekreische aus. Wellen der Aufregung fluten durch die Halle, niemand denkt mehr an Kaufen und Verkaufen. „Polizei! … mein Geld … mein Geld! …“ tobt die Bestohlene noch immer. Jemand hat das Überfallkommando alarmiert. Polizei kommt … Überfall kommt! tost es durch die Menge. Wer es nicht für ratsam hält, die Ankunft der Polizei abzuwarten, flüchtet durch den Ausgang Invalidenstraße.
    Eine Minute später springen sechs Beamte vom Flitzer. Zwei postieren sich vor den Ausgang Ackerstraße, zwei vor den in der Invalidenstraße. Aber was können sechs Beamte ausrichten? Der Bereitschaftsdienst wird alarmiert. Eine halbe Hundertschaft rast im Lastauto vor. Und jetzt wird die Halle systematisch abgekämmt . Die Geschäftsleute toben „Geschäftsschädigung“, Sistierte fluchen und schreien, reine Gewissen finden es ganz interessant. Ein Dutzend Verdächtiger ohne Ausweis wird aufs Lastauto verfrachtet. Ab zum Polizeipräsidium. Langsam, langsam ebben die Wogen der Erregung ab, langsam geht der Geschäftsbetrieb wieder an. Jeder warnt: Sehen Sie sich bloß vor … Taschendiebe! Eben war große Razzia!
    Jonnys erste und wichtigste Regel lautete: sowie sich die kleinste Aufregung bemerkbar macht: raus aus dem Warenhaus, raus aus der Markthalle, weg vom Wochenmarkt! In stundengroßen Abständen finden die Blutsbrüder sich einzeln in der Rückerklause ein. Dunkel ist es bereits, als alle sechs versammelt sind. In der Rückerklause, der Heimat der Heimatlosen, herrscht sentimentale Weihnachtsstimmung. Und als der Lautsprecher „O du fröhliche, o du selige …“ säuselt, singt das ganze Lokal mit. Aber nicht das Gegröhle, das etwa die Liebe der Matrosen begleitet, nein, eher ein erinnerndes, wachrufendes, artiges Begleiten, so stimmschön es irgend geht. Sentiments, im richtigen Augenblick serviert, sind wollüstig akzeptierte Kost für den härtesten Ganoven. Tränen, in solchen Augenblicken vergossen, haben nichts Entwürdigendes.
    Ursache der Markthallenaufregung war Georg. „Hat es sich wenigstens gelohnt?“ Georg zeigt die Geldbörse, zweiundzwanzig Mark. Sie brechen auf und gehen in Richtung Koloniestraße, zur Laube. Am Bahnhof Gesundbrunnen essen sie in einem Speiselokal. Walter soll Ulli holen, er soll essen kommen. Grün sind sie dem Ulli ja nicht, aber wenn sie die Laube nicht hätten, wär es doch ganz aus. Schweigend sitzen sie vor ihrem Fünfzig-Pfennig-Menü. Leer ist es im Lokal, auch auf der Straße wird es einsamer, die Menschen beeilen sich. Walter kommt zurück, allein, atemlos, zitternd vor Aufregung. „Ulli is weg … die Laube abgeschlossen, ein Polizeisiegel an der Tür!“ Fünf Gabeln klirren auf die Teller. Polizeilich versiegelt? Die haben die ganze Clique verhaften wollen und nur den Ulli gefunden! Aus … aus! Weg von dieser Gegend. In die Untergrund und weg von hier. Sonst gehen sie noch alle am Heiligabend hoch. Jetzt ist die Clique endgültig gesprengt. Keine Bleibe, wenig Geld, in jedem Augenblick können sie verhaftet werden. In einem Untergrundbahnzug sitzen sie, verstreut im ganzen Wagen. Nur nicht als zusammengehörig auffallen. Aber ihre Blicke suchen sich und fragen ängstlich: Was nun?
    „Junggesellen-Weihnachtsfeier“ steht an einem kleinen Lokal in einer Seitenstraße des Bülowbogens. Halb Kneipe, halb einfaches Café. Zwischen den Tischen thront ein brennender Weihnachtsbaum und auf jedem Tisch prangen buntbebänderte Tannenreiser. Der Klavierspieler verzapft unentwegt „Stille Nacht, heilige Nacht …“ , wie es sich gehört. Einpaar Nuttchen und ihre Liebsten begießen sich die Nase mit Punsch und Sentiments, und einem Angetrunkenen wird von der Wirtin strengstens auferlegt, das schöne Weihnachtslied nicht so barbarisch zu gröhlen. „Sing’ doch anschtändig, oller Wasserkopp …“ Die sechs Blutsbrüder sitzen neben dem großen Kachelofen, trinken ihren Glühwein und starren in den Weihnachtsbaum. Dem kleinen Walter kullern einige Tränen aus den Basedowaugen, die schmutzige Hand will die Nässe beseitigen und jetzt hat Walter ein richtiges, verschmiertes und verheultes Kindergesicht. Als die erste Weihnachtswallung überstanden ist, entsinnt sich die Wirt- in ihrer Steuerrückstände und sieht jetzt um so eifriger auf Konsum. Die sechs Bengels da am Ofen verzehren rein gar nichts, wenn die vielleicht denken, hier ist eine Wärmehalle

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