Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
der Clique Blutsbrüder angehört hat, dann wird die Jagd auf die Clique von neuem angehen. Aber wenn Heinz fest bleibt, nichts gesteht und auch die Clique verleugnet, dann wird er wieder in die Fürsorgeanstalt gebracht. Beweise, daß er sich an den Taschendiebstählen beteiligt hat, wird die Polizei schwerlich erbringen können. Wenn Heinz fest bleibt! Aber wenn er wieder den Kopf auf den Tisch wirft und, mürbe geworden, gesteht und gesteht …, dann wird der Staatsanwalt Arbeit bekommen. Das Jugendgericht wird aus dem Kopfschütteln nicht herauskommen und Heinz schwer bestrafen müssen.
Heinz war erwacht. Und die Erkenntnis seiner versauten Jugend war so grauenvoll, daß Gefängnis oder Fürsorge ihm als kleinere Übel erschienen. Er wird bestimmt keinen Fluchtversuch aus der Anstalt mehr unternehmen. Nur noch still, nicht mehr träumend, wird er die Qual des Anstaltslebens hinnehmen. An seinem einundzwanzigsten Geburtstag, vielleicht auch wegen der guten Führung schon eher, verläßt einMensch ohne Rückgrat, eine Knechtsnatur die Anstalt, um den Kampf mit dem Leben aufzunehmen . Den Kampf wird Heinz stets mit dem Hut in der Hand begehen.
Gedrückter Stimmung, unentschlossen zu allem strolchen die fünf Überbleibsel der Clique durch die Straßen. Den Mut zu kriminellen Taten bringen sie nicht mehr auf. Es wird wieder werden wie es immer war, vor der Zeit mit Jonny und Fred: Auf den Strich gehen, gelegentlich einen Taler dabei verdienen und sonst hungern und hungern, daß die Schwarte knackt. Obdachlos, so lange schon obdachlos, daß eine Matratze in einer Massenherberge das Paradies ist. Oder aber sich einer anderen Clique anschließen. Wieder unter einem Führer arbeiten , Taschendiebstähle, kleine Einbrüche, Autoräubereien …, was gerade Spezialität der Clique ist.
Bleibt ein anderer Weg? Arbeit, ehrliche Arbeit? Selbst wenn so ein Wunder passieren würde und jemand käme: Wollen Sie bei mir arbeiten? Da wäre es im gleichen Augenblick doch wieder aus! Papiere! Die amtliche Bescheinigung, daß der und der, geboren dann und dann, frei herumlaufen darf und nicht etwa in die Fürsorge gehört …, diese Bescheinigung bricht doch jedem das Genick, weil sie nicht vorhanden ist. Weil sie ja gar nicht frei herumlaufen dürfen! Die Fürsorgezöglinge, die eingesperrt werden können, auch wenn sie noch gar nichts verbrochen haben! „Um einer drohenden Verwahrlosung vorzubeugen“, heißt es dann in dem Beschluß, der die Fürsorgeerziehung vorsieht.
In der Anstalt aber, die der drohenden V erwahrlosung ein Ende bereiten soll, hören und lernen die Zöglinge von den Kameraden, wie man am gefahrlosesten zu Geld kommt. Wie man mit den einfachsten Mitteln Nachschlüssel anfertigt …, wie man Geldschränke anknabbert …, wie man eine Fensterscheibe geräuschlos eindrückt …, wie und wo man in Berlin auf den Strich geht … Und: wie man aus der Anstalt ausbricht und das Gelernte verwertet oder vor Hunger krepiert. — —
Hunderttausende Arbeitsloser zergrübeln sich den Kopf nach einer Verdienstmöglichkeit, nach einer, wenn auch noch so kleinen Existenz. Tausend neue Berufe, Berufe, die nackte Verzweiflung ersann, tauchen auf. Angefangen vom Salzstangenhändler in den Kneipen bis zum Schirmverleiher bei plötzlichen Regengüssen. Vom Autobewacher bis zum Naturforscher in den Müllgebirgen an den Peripherien der Großstadt. Eine Fülle bizarrer Einfälle, eine unendliche Sehnsucht nach Betätigung, ein erschütternder Beweis des Ehrlichbleibenwollens gegenüber dem Zwang, doch leben und essen zu müssen.
Was Abertausenden nicht gelang: Willi und Ludwig schafften es auf den ersten Anhieb. Ihr An- und Verkauf von altem Schuhzeug ernährt sie. Zwei Monate bereits wandern sie von Stadtteil zu Stadtteil und leiern ihren Satz ab: Wir zahlen bis zu zwei Mark … Einmal zahlten sie sogar wirklich zwei Mark. Bitte sehr. Jemand hatte in irgendeiner Vereinslotterie ein Paar schöne braune Schuhe gewonnen. Für zehn Pfennig. Leider aber hatte der glücklich-unglückliche Gewinner die Schuhgröße vierundvierzig, während der Gewinn dreiundvierziger Schuhe waren. Für seinen Verein tut man, was man kann. Man trägt sogar zu enges Schuhzeug, nur um den Vorsitzenden nicht zu kränken. Zweimal trug der Gewinner die billigen, aber unausstehlich engen Schuhe. Dann warf er sie mit einem furchtbaren Fluch in die finsterste Ecke; aus der sie dann, wie gesagt, für zwei Mark in Ludwigs Sack wanderten. Weiterverkauft wurden
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