Blutschwestern
erkennen schien. »Lalu-Frauen sind dort hinten, aber leben an keinem
festen Ort. Lalu-Frauen sind frei wie der Wind und gehen, wohin sie wollen. Sie mögen keine festen Häuser, suchen sich einen
Ort, der ihnen gefällt, und bleiben da, bis sie weiterziehen. Lalu-Frauen sind Geistwesen in Körpern gefangen. Müssen wandern,
müssen frei sein, müssen mit dem Wind gehen, müssen ihrem Geist folgen, wohin immer er sie zieht.«
Nona verstand nichts von dem, was Dawon ihr sagte, doch sie war zu erschöpft, um nachzufragen, deshalb nickte sie einfach.
Dawon nahm sie erneut hoch, und Nona schloss die Augen, als er sich mit ihr in die Luft erhob. Frei wie der Wind, wie gerne
wäre sie das auch gewesen, frei und ohne diese Bürde unter ihrem Herzen, die ihren Körper und ihren Geist zu zerstören und
ins Dunkel hinabzuziehen drohte. Nona öffnete erst wieder die Augen, als Dawon sie erneut absetzte. Vor ihr verschwommen die
Wiesen und ein großes im Wind flatterndes Gebilde. Irritiert kniff sie die Augen zusammen, bis sich ihr Blick wieder schärfte.
Dann musste sie trotz ihres Zustands staunen. Etwas so Schönes und doch Leichtes hatte sie noch nie gesehen. Feinste durchsichtige
Stoffbahnen waren auf Rahmen gespannt und zu einer Art Haus angeordnet worden, das kein Dach besaß. So leicht, als könnte
eine Windböe es forttragen, stand das Gebilde vor ihnen, und doch drang kein Laut durch die hauchdünnen Stoffbahnen zu ihnen
nach außen.
Dawon hielt sie im Arm, als sie auf das unwirkliche Gebilde zuliefen. Kurz darauf blickte Nona in das Gesicht einer jener
geheimnisvollen Lalu-Frauen, die von irgendwoher aus dem Inneren des Hauses zu ihnen kam. Nona hatte zwar nie zuvor eine Lalu-Frau
gesehen, doch sie wusste beim ersten Blick, dass dieses zierliche Wesen, das ihr gerade bis unter das Kinn reichte, eine von
den sagenumwobenen |163| Zauberfrauen war. Sie trug ein schlichtes lockeres Gewand aus jenem hauchdünnen Tuch, aus dem auch ihr Heim bestand. Überrascht
bemerkte Nona, dass der Körper der Zauberfrau beinahe kindlich war. Ihr Gesicht war ebenmäßig, von klaren jugendlichen Zügen
mit seltsamen Augen, in denen es funkelte und glitzerte, wenn die Sonne hineinschien. Das Haar war ebenso seltsam wie die
Augen. Fein und hauchdünn wehte es vom Wind bewegt um ihren Kopf.
»Dawon der Greif, du bist gekommen, um die Menschenfrau zu bringen. Wir wissen es bereits. Der Wind hat es uns zugetragen«,
sprach sie ihn mit einer Stimme an, die so klar und schön klang, wie kein Menschenwesen je hätte sprechen können. Nona vermochte
kaum den Blick von dieser Erscheinung abwenden, so ungewöhnlich und anziehend war sie auf ihre seltsame Art.
»Die große Zauberin wartet bereits auf dich«, sagte das zarte Geschöpf an Nona gewandt und lächelte sie an, während sie auf
Dawon und Nona zulief. Dann legte sich die schmale Hand der Frau auf Nonas Stirn. Das Letzte, was Nona vernahm, waren die
Worte, die in ihrem Kopf nachklangen: »Schlaf jetzt, Nona, Kind der Menschen. Bald wird es dir besser gehen.«
Nona erwachte und meinte, sie würde in Dawons Armen liegen und noch immer von ihm getragen werden. Als sie jedoch die Augen
aufschlug, bemerkte sie, dass das schwebende Gefühl daher rührte, dass ihr Körper auf einem Tuch lag, das, allein von der
Luft getragen, schwebte. Wieder einmal war sie nackt. Sie setzte sich auf, und das Tuch passte sich ihrer neuen Körperhaltung
an. Nona konnte kaum glauben, dass sie nicht träumte. Wie vermochte ein leichtes Tuch das Gewicht ihres Körpers zu tragen,
ohne dass es zu Boden fiel?
»Das ist das Geheimnis der Stoffe, die wir herstellen. Hast du es bereits erkannt? Weißt du, woraus wir unsere Stoffe fertigen,
Nona vom Volk der Menschen?«
Nona sah sich um und entdeckte eine junge Frau, welche der |164| anderen, die sie empfangen hatte, ähnelte. Ihre Gesichtszüge waren gleichfalls makellos. Es wunderte Nona kaum, dass Dawon
so sanft und schön war, wenn seine Mutter zu diesen außergewöhnlichen Geschöpfen gehörte. Dann fiel ihr auf, dass Dawon nicht
an ihrer Seite war. Zu ihrer Überraschung durchfuhr sie ein Gefühl, als ob etwas von ihr abgetrennt worden wäre; als sollte
sie auf einem Bein stehen oder ohne Hände essen. War sie bereits so abhängig von seiner Fürsorge geworden?
»Wo … wo ist Dawon?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich habe ihm gesagt, dass er einige Tage umherstreifen soll. Er ist ein Greif, ein
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