Blutschwestern
wird Dawon es halten.«
»Oh …«, gab sie enttäuscht zu und erinnerte sich wieder an ihre eigenen Worte. Es schmerzte sie, dass Dawon so weit von ihr
abgerückt war. Kurz hielt sie inne. War sie noch dieselbe Nona, die den Greif im Isnalwald zurechtgewiesen hatte? All ihre
Ablehnung erschien ihr mit einem Male so unsinnig … fast als wäre sie jemand ganz anderes gewesen.
Wieder spähte sie in den Baum. »Ich habe Hunger, und die Zauberin |169| sagte, dass die Blätter der Bäume hier genießbar sind. Könntest du vielleicht …«
Ohne dass sie weiter sprechen musste, begann Dawon Blätter von den Ästen zu zupfen. Bald befand sich Nona in einem Regen aus
schwebenden Blättern, die um sie herum niederfielen. Sie ließ sich ins warme Gras sinken und begann, auf den Blättern herumzukauen.
Erfreulicherweise schmeckten sie leicht süß. So saß sie eine ganze Weile da, während Dawon sie von seinem Ast aus beobachtete.
»Ich komme mir hier unten dumm vor, wenn du auf mich herabstarrst«, platzte es endlich aus ihr heraus.
Dawon machte Anstalten sich zu erheben. »Dawon wird Nona alleine lassen«, erwiderte er enttäuscht.
»Nein!«, rief sie etwas zu schrill. »Ich möchte, dass du herunterkommst und dich zu mir setzt.«
Zweifelnd blickte er auf Nona herunter, doch dann sprang er tatsächlich von seinem Ast und hockte sich ihr gegenüber ins Gras.
Wie so oft starrte er sie auf die eindringliche Weise an, die ihm eigen war. Sie bot ihm ein Blatt an, das er nahm und au
dem er ebenso wie sie herumkaute; doch es hielt ihn nicht davon ab, sie weiter anzustarren.
»Bei Salas Liebe, Dawon. Was ist denn nur los mit dir? Du hast mich den ganzen langen Weg von Engil bis hierhin getragen.
Warum siehst du mich jetzt an wie eine Fremde?«
Er hörte auf zu kauen und umspannte seine Knie mit den Armen, während er vor ihr hockte. »Nona war krank, jetzt ist sie wieder
gesund. Wenn Dawon nun zu nah bei Nona ist, kann er vielleicht sein Versprechen nicht halten, das er ihr gegeben hat«, stellte
er sanft fest. »Dawon hat Nona Leid zugefügt mit seiner Liebe. Dawon kann Nona nicht noch einmal wehtun.«
Nona kniete sich vor ihn und legte ihre Hand an seine Gesicht. Sie hatte Lust, ihn zu berühren. Dawon schloss die Augen und
schmiegte sich an die ihm dargebotene Hand. So warm und vertraut fühlte sich Dawons Haut an, dass es ihr unerträglich erschien, |170| sie nie mehr spüren zu sollen. Sie wurde mutiger und strich mit der Hand seinen Rücken entlang. Erstmals fielen ihr die spitzen
Knochenauswüchse an seiner Wirbelsäule auf, die sonst von seinem langen Haar verdeckt wurden. »Ich kann nicht ohne dich sein«,
hörte sie sich zu ihrem Erstaunen selbst sagen. »Jetzt nicht mehr!«
Er öffnete die Augen und schien sie mit seinem Blick zu durchdringen. »Nona liebt Dawon?«, fragte er hoffnungsvoll, und sie
erkundete ihr Herz nach einer Antwort auf dieses ihr unerklärliche Verlangen ihrerseits. Schließlich begann sie zu sprechen.
»Wenn es Liebe ist, dass ich mich kalt fühle, wenn du zu weit fort bist, dass ich mich leer und allein fühle, wenn du nicht
bei mir bist, dann ist es wohl so.«
Endlich wagte auch Dawon, sie zu berühren. Seine Hände fuhren sanft ihren Hals entlang, über ihre Schultern, die Brüste und
verharrten dann auf ihrem noch flachen Bauch. »Nona will Dawons Gefährtin sein?«, fragte er, und sie spürte, wie seine Berührung
gleich warmen Wellen durch ihren Körper flutete.
»Ja, ich will deine Gefährtin sein«, antwortete sie, und erst da zog er sie an sich. Nona spürte seinen warmen Körper, und
dieses Mal war es kein verlockender Duft, der sie dazu brachte, ihn zu umarmen und sich von ihm hinauf in den Himmel tragen
zu lassen.
Als Nona an diesem Abend zum Haus der Lalu-Frauen zurückkehrte, fühlte sie sich leicht und von einer wohligen Wärme durchflutet.
Ihr Bauch schien leicht zu brennen, doch es war kein unangenehmes Gefühl, vielmehr ein sattes und süßes Kribbeln. Als sie
durch das Haus mit seinen vielen Gängen und Stoffbahnen irrte und bereits meinte, niemals in ihrem Raum anzukommen, kam ihr
die Zauberin entgegen. Sie musterte Nona einen Moment und stellte dann fest: »Du warst mit dem Greif zusammen.«
Nona errötete, obwohl sie nicht wusste weshalb. Immerhin trug sie ein Kind von Dawon, weshalb hätte sie sich also rechtfertigen
oder schuldbewusst fühlen sollen. Die Zauberin wartete Nonas |171| Antwort nicht ab, sondern
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