Blutsgeschwister
Weile sagte Kit: »Warum hasst Ilan Mr. Turner so sehr?«
»Er tut Mr. Turner weh, also muss Mr. Turner wohl ihm wehgetan haben.«
»Es gibt einen Unterschied zwischen wehtun und töten.«
Im Zelt brannte ein Licht, und die Schwestern sahen zu, wie die Schatten herumstreiften. Einer der Schatten hatte eine Axt. Fancy lächelte. »Wetten, Mr. Turner wünscht sich, er wäre tot geblieben?«
»Zu dumm, dass wir kein Popcorn haben«, sagte Kit, als Blut an die Zeltwände spritzte. Ein paar Sekunden später erschienen die Lakaien auf dem Zeltplatz und brachten nicht nur eine riesige Schüssel mit Popcorn und einen Krug Limonade, sondern auch einen kleinen Tisch und zwei Gartenstühle.
»Ich hab dir doch gesagt, das ist genauso dein Ort wie meiner«, sagte Fancy und stopfte sich Popcorn in den Mund.
»Ich war das?« Kit sah sehr zufrieden mit sich aus. »Ihr dürft jetzt gehen«, sagte sie imposant zu den Lakaien, als diese die Stühle aufgestellt hatten.
Die Schwestern setzten sich, und Fancy sagte: »Und wer ist jetzt die Maharani?«
»Ich natürlich.« Kit lehnte sich zurück und wedelte theatralisch mit den Händen zum Zelt, welches sich vor Fancys erstaunten Augen öffnete und wuchs, bis es sich zu einem Rechteck ausgeweitet hatte, das wie eine Kinoleinwand aussah. Die Turners waren noch immer Silhouetten auf der anderen Seite und widmeten sich ihren dunklen Taten.
»Machst du das?«, fragte Fancy beeindruckt.
»Ich bin die Maharani«, sagte Kit, »und die Maharani will wissen, was in der Nacht passiert ist.« Sie lachte über ihre eigene Albernheit. »Und ich auch.«
»Ich kann die Vergangenheit nicht sehen, Kit. Das hab ich dir gesagt.«
»Das ist unser Ort. Wer sagt uns, dass wir die Vergangenheit nicht sehen können, wenn wir es wollen? Willst du denn nicht?«
Fancy reichte ihr das Popcorn. »Unbedingt.«
Also starrten sie auf die Zeltleinwand, die Kit hatte entstehen lassen, und mit einem Mal erschien dort ein Bild und spielte sich ab wie ein Film.
Ilan, ungefähr zwölf Jahre alt, ging in ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer mit einem Stockbett und Sternen an der Decke, die im Dunkeln leuchteten. Er hielt die Tür auf für Mr. Turner, der hineinkam und einen zehnjährigen Gabriel schlaff in den Armen trug. Mr. Turner legte ihn ins untere Bett, und Gabriel drehte sich tief schlafend auf die Seite. Mr. Turner setzte sich zu ihm aufs Bett und griff nach seinem Shirt.
Ilan trat einen Schritt vor. »Ich kann mich jetzt um ihn kümmern.«
Mr. Turner hielt inne, seine Hände schwebten über dem Saum von Gabriels Iron-Man -T-Shirt. Er sah Ilan unschuldig an. »Ich will doch nur …«
»Ich sagte, ich kann mich jetzt um ihn kümmern«, wiederholte Ilan scharf.
Mr. Turner seufzte tief. »Gut. Hol mich, wenn er aufgewacht ist.«
Ilan wartete damit, Gabriel zu entkleiden und ihm einen Schlafanzug anzuziehen, bis sich die Tür hinter Mr. Turner geschlossen hatte. Dann zog er eine dunkelbraune Flasche aus seiner Tasche und kniete sich auf den Boden neben seinen Bruder und flüsterte: »Tut mir leid, dass ich dich krank machen muss, aber er wird dir nichts tun, wenn du krank bist.« Er versuchte, seinem Bruder den Inhalt der Flasche einzuflößen, aber sie war leer. Er starrte die Flasche an, als hätte sie ihn betrogen. »Verdammt.«
Ilan stand auf und ließ die Flasche in den nächsten Mülleimer fallen. Dann ging er ins Bad und wühlte sich verzweifelt durch den Medizinschrank, bis ihn ein Bums zurück ins Schlafzimmer rennen ließ. »Gabe?«
Aber Gabriel war nicht mehr im Bett.
Er steckte halb im Spiegel an der Wand, die den Stockbetten gegenüberlag. Seine Beine strampelten heftig.
»Gabe!«
Ilan rannte zu ihm und packte ihn an den Hüften, gerade noch rechtzeitig, bevor er zusammen mit seinem Bruder hineingerissen wurde. Sein Kopf verschwand in dem Spiegel, der nicht den Raum abbildete. Es war mehr ein Fenster, das in einen grauen Keller führte, in dem ein schmächtiger Mann mit einem netten Gesicht stand. Er hielt Gabriel an den Armen fest. Der Mann trug blaue Arbeitskleidung, und der Name GUTHRIE war über seinem Herzen aufgestickt. Er schien überrascht, Ilan zu sehen, aber nicht unglücklich.
»Zwei zum Preis von einem«, sagte er. Der Klang seiner Stimme drang gedämpft durch den Spiegel. So auch die von Ilan.
»Ich weiß nicht, wer Sie sind, Mister, aber Sie können meinen Bruder nicht haben. Ich habe mein Leben lang auf ihn aufgepasst, und ich bin nicht bereit, ihn einfach einem Fremden
Weitere Kostenlose Bücher