Nicht die Welt (German Edition)
1.
Sicherlich muss ich einen Arzt aufsuchen. Seit geraumer Zeit fühle ich eine gewisse Ausgebranntheit, die sich bisweilen zur totalen Erschöpfung steigert. Ich fühle mich innerlich ganz leer. So ein Arztbesuch ist keine leichte Sache. Was kann ich gewinnen? Bestenfalls werde ich natürlich von der Last einer Krankheit befreit. Doch bin ich überhaupt krank? Und wenn ja, will ich wissen, welche Krankheit ich habe? Denn schlimmstenfalls habe ich nach einem Arztbesuch eine Krankheit am Hals, die den Körper schon zu tief durchdrungen hat, als dass man sie heilen könnte. Und dann wäre es besser, in Unwissenheit weiterzuleben. Aber nicht zum Arzt zu gehen, wäre fahrlässig, sogar töricht. Vielleicht kann ich noch einen Tag warten. Dann hätte ich etwas Zeit gewonnen. Die Wahrheit werde ich früh genug erfahren.
Der alte Mann stand vor dem Steintor. Für seine Pilgerfahrt zum Totenorakel fühlte er sich gut vorbereitet. Er trug seinen besten Anzug und hatte in einem Aktenkoffer die Opfergabe für das Orakel bei sich. Die hohen Säulen des Steintors führten ihn auf das Tempelfeld, wo er sich entscheiden musste, welchen Weg er einschlagen wollte. Entweder nahm er den Tempel zu seiner Linken oder er wählte den zu seiner Rechten. Beide Tempel sahen genau gleich aus und gaben somit durch ihr Äußeres keinerlei Entscheidungshilfe. So wählte er den rechten Tempel, denn er glaubte, dass dieser von jeher der bessere war. Im Tempelinneren wartete bereits jemand mit Tätowierungen im Gesicht und an den Armen auf ihn. Das muss ein Priester sein, dachte der alte Mann. Er öffnete seinen Aktenkoffer und reichte ihm in einer Bewegung, die einer Verneigung gleichkam, drei Konservendosen als Opfer für das Orakel. Der Priester legte die Dosen auf einem Altar ab, entzündete eine Fackel und gemeinsam stiegen sie eine Steintreppe hinab. Da die Fackel nur wenig Licht spendete, waren Eisenschienen am Boden für den alten Mann eine wichtige Orientierung. Andächtig ging er jeden einzelnen der ihm vorgeschriebenen Schritte nach. Am Ende des Weges verband der Priester seine Augen. Der alte Mann legte eine Hand auf die Schulter des Priesters und wurde von nun an von ihm geführt. An manchen Stellen war es so eng, dass der Priester behutsam seinen Kopf hielt, damit er sich nicht stoßen konnte. Immer weiter ging es durch den für den Alten unsichtbaren Schlund, bis ihm am Ende die Augenbinde abgenommen wurde. Der Priester öffnete eine schwere Stahltür und bedeutete ihm einzutreten.
Der alte Mann ging durch einen Vorraum und einige Stufen hinunter, um in einen größeren Raum zu gelangen. Mehrere Priester und Pilger hielten sich dort auf, einige von ihnen schienen zu meditierten. Eine Art Schrein stand in der Mitte des Raums auf einem einfachen Holztisch. Der alte Mann wartete in einer Ecke, bis ein Priester kam, ihm Rauch ins Gesicht blies und ihm eine Kopfbedeckung aufsetzte. Danach nahm er auf einem Stuhl unmittelbar vor dem Schrein Platz. Er rieb seine feuchten Hände an der Hose trocken, faltete und küsste sie. Mehrmals murmelte er eine Formel vor sich hin, die über dem Schrein angebracht war:
»Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt.«
Nach kurzer Zeit spürte er eine Verbindung mit der Welt der Toten. Der Schrein erhellte sich, verschwommen sah er einige Gesichter, die auf ihn zukamen. Zunächst hörte er Stimmen, die sagten: »Komm‘ zu uns, lieber Vater«, andere Stimmen fügten hinzu: »Wir vermissen dich, liebster Opa.« Nach einer Weile mischte sich eine weitere vertraute Stimme ein: »Ja, hier wird ein Platz für dich sein.« — Tränen der Freude flossen über seine Wangen. Geliebte Menschen erschienen für eine kurze Zeit. Danach vernahm er plötzlich andere, fremde Stimmen: »Dies hier ist nicht deine Welt. Bleibe in der, die dir bestimmt ist.« Langsam verdunkelte sich der Schrein, so dass er flehentlich rief: »Ich bin noch nicht bereit, meine Zeit ist noch nicht abgelaufen. Wartet auf mich auf der anderen Seite, wartet, bis meine Aufgabe hier erledigt ist.« Ein Priester berührte seine Schulter und sagte: »Es ist nun Zeit für dich zu gehen.«
»Gib mir bitte noch ein wenig mehr Zeit, mehr brauche ich nicht«, antwortete der alte Mann.
»Das ist nicht möglich«, sagte der Priester mit Nachdruck.
»Wir werden auf dich warten«, sagte eine Stimme aus dem Schrein, jetzt nur noch sehr leise zu vernehmen.
»Ich werde kommen. Ich verspreche es«,
Weitere Kostenlose Bücher