Blutwurstblues. Ein Mick-Brisgau-Krimi: Der große Roman mit dem Team von Der letzte Bulle (German Edition)
zweiten Blick auffiel. Dafür, dass Willi Albrecht und sein Enkel Thomas in einem reinen Männerhaushalt lebten, war es ungewöhnlich sauber. Der Linoleumfußboden glänzte wie geleckt. Spinnweben an Wänden und Zimmerdecke suchte man vergeblich. Die alte Küchenzeile Marke Poggenpohl war nicht nur ein stummer Zeuge des bescheidenen Wohlstandes, den ein Bergmann bis Mitte der 80er durch harte Arbeit erreichen konnte, sie sah auch noch so aus wie am ersten Tag. Das Einzige, was die Ordnung ein wenig störte, waren die beiden umgefallenen ALDI-Tüten vor der Glastür, die in den Garten hinausführte. Ihr Inhalt hatte sich halb über den Boden verteilt. Wahrscheinlich war Willi Albrecht gerade vom Einkaufen zurückgekommen und hatte die Tüten fallen gelassen, ehe er in den Garten gestürzt war, um nachzusehen, was der Polizeiauflauf zu bedeuten hatte.
Micks Blick wanderte zurück zu Willi Albrecht, dessen Miene noch immer wie versteinert war. Keine Tränen, noch nicht einmal feuchte Augen. Auch wenn Mick wusste, dass dies kein Dauerzustand sein würde, verlangte die eiserne Haltung ihm Respekt ab. Umso mehr, als heutzutage doch öffentliches Rumgeflenne aus jedem noch so nichtigen Anlass bei Männern so hoch im Kurs stand. Willi Albrecht hätte ohne jede Frage Grund gehabt, den Tod seines Enkels zu beweinen, aber er tat es nicht, und Mick verstand, warum. Willi Albrecht entstammte noch der Generation Männer, der ein Schlag ins Gesicht zwar genauso wehtat wie jedem anderen auch, die sich aber nicht die Blöße gab, dies zu zeigen. Der Generation Männer, die noch den Krieg gesehen hatte. Der Generation, der auch Micks Großvater angehört hatte. Ein Mann, der in seiner strengen, Respekt einflößenden, aber eben auch verlässlichen Art Mick nachhaltig geprägt hatte. Gerade was die Verlässlichkeit anging, war es bei Micks Vater leider nie weit her gewesen, weswegen sich auch nie das Gefühl der Nähe eingestellt hatte, das Mick noch heute mit seinem Großvater verband. Nie die Chance gehabt zu haben, sich von ihm zu verabschieden, schmerzte ihn, und Mick war sich sicher: Seinem Großvater war es ähnlich ergangen.
Der letzte Gedanke ließ Mick zusammenzucken. Das vertraute Ambiente des Zechenhauses, ein alter Mann und zwei Kripobeamte mit einer schlechten Nachricht. Für einen Moment hatte Mick das seltsame Gefühl, Zeuge der Szene zu sein, in der man seinem Großvater mitgeteilt hatte, dass sein Enkel nach einem Kopfschuss ins Koma gefallen war und aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mehr aufwachen würde.
»Ist es wenigstens schnell gegangen?«, brach Willi Albrecht schließlich das Schweigen. Andreas schaute ihn verwirrt an.
»Was? Ach so. Also, der Abschlussbericht der Rechtsmedizin steht noch aus, aber angesichts der Energie, die hinter dem Schlag …«
»Ihr Enkel war entweder sofort tot oder zumindest bewusstlos. Lange gelitten hat er in keinem Fall«, kürzte Mick Andreas’ ausufernden Bericht mit harten, aber ehrlichen Worten ab.
Willi Albrecht nickte stumm. Dann, nach einigen Augenblicken, wanderte sein Blick zur Küchenuhr.
»Ich muss die Tauben füttern.«
Willi Albrecht erhob sich und öffnete die Tür zum Garten. Andreas warf Mick einen irritierten Blick zu. Albrechts Enkel war tot, und ihm fiel nichts Besseres ein, als um Punkt sechs die Tauben zu füttern? Mick hatte in seinem Leben jedoch schon viele Menschen getroffen, die gerade erst mit einem tragischen Verlust konfrontiert worden waren. Er wusste genau, womit sie es hier zu tun hatten. Manche traf die böse Erkenntnis sofort. Andere verhielten sich wie jemand, der sich bei dem Versuch, einen Nagel in die Wand zu treiben, mit voller Wucht auf den Daumen geschlagen hat. Während das Blut bereits aus dem Finger quillt und die Augen das Missgeschick ungläubig betrachten, lässt der Schmerz noch auf sich warten. Und zwar so lange, bis sich der erste Schock legt.
Albrecht schien zur letzteren Sorte zu gehören. Auch wenn sich Mick der Brutalität dieses Gedankens bewusst war, lag darin doch eine Chance. Denn so lange sich Willi Albrecht in der Schockstarre befand, bestand die Möglichkeit, dass sie noch an die eine oder andere Information gelangten. Sobald ihm jedoch wirklich bewusst wurde, was seinem Enkel widerfahren war, wäre sicher erst einmal kein Gespräch mehr möglich.
Mick und Andreas folgten Willi Albrecht auf eine kleine Terrasse aus Waschbetonplatten. Rechts schloss ein Garagenhäuschen aus Backstein an, dessen Tür Albrecht
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