Bob, der Streuner
Dunkelheit weckte in mir ein längst vergessenes Gefühl von Geborgenheit. Ich war nicht mehr allein – zum ersten Mal seit langer Zeit.
Am Sonntag stand ich ziemlich früh auf. Ich wollte versuchen, auf einem Spaziergang durch die Nachbarschaft seine Besitzer ausfindig zu machen. Vielleicht hatten diese ja bereits Aushänge mit einer Vermisstenanzeige verteilt. Kopierte Hilferufe hingen damals überall. An Straßenlaternen, an Litfaßsäulen und sogar an Bushaltestellen baten Tierbesitzer um Mithilfe bei der Suche nach ihren vermissten Lieblingen. Ich fragte mich schon, ob eine »Cat-Napping«-Bande ihr Unwesen trieb, weil so viele Stubentiger vermisst wurden.
Den Kater nahm ich mit, nur für den Fall, dass ich seinen Besitzer gleich fand. Zur Sicherheit hatte ich ihm aus Schuhbändern ein Halsband und eine Leine gebastelt. Auf dem Weg durch das Treppenhaus wich er nicht von meiner Seite, doch sobald wir im Hof waren, zog er ungestüm an dem ihn behindernden Band. Wollte er weg oder nur in Ruhe sein Geschäft verrichten? Ich ließ ihn frei. Er humpelte auf den Rasen und verschwand hinter ein paar Büschen. Aber nur lange genug, um sich zu erleichtern, dann war er wieder da und schlüpfte ohne Murren zurück in das provisorische Geschirr.
Dieses Vertrauen wollte und würde ich keinesfalls enttäuschen. In diesem Moment gelobte ich, für ihn da zu sein, solange er mich brauchte.
Meine erste Anlaufstelle war die Nachbarin auf der anderen Straßenseite. Sie war als Katzenmutter bekannt, denn sie fütterte alle Streuner aus der Nachbarschaft und ließ sie, wenn nötig, auch kastrieren. Als sie mir die Tür öffnete, zählte ich hinter ihr im Haus mindestens fünf Katzen. Wie viele noch bei ihr wohnten, wollte ich gar nicht wissen. Angeblich kannte jede Katze aus der Umgebung ihren Garten, weil es dort immer Futter gab. Keine Ahnung, wie sie sich das leisten konnte.
Auch sie erlag sofort dem Charme meines Begleiters und versuchte, ihn mit einem Leckerbissen anzulocken. Sie war wirklich sehr freundlich, konnte uns aber nicht weiterhelfen. Auch sie hatte den roten Kater nie zuvor in unserer Gegend gesehen.
»Ich wette, er kommt aus einem anderen Stadtteil und wurde hier ausgesetzt«, mutmaßte sie und versprach, sich zu melden, falls doch noch ein verzweifelter Katzenbesitzer bei ihr auftauchen sollte. Mittlerweile hielt ich das für sehr unwahrscheinlich. Tottenham war nicht sein Revier. Es gab noch eine Möglichkeit, meine Vermutung zu bestätigen: Ich nahm dem abgemagerten Garfield-Verschnitt die Leine ab. Sollte er zielstrebig weglaufen, hätte ich eine neue Spur. Aber er fühlte sich sichtlich unbehaglich und blieb neben mir stehen. Sein fragender Blick war herzerweichend: »Du willst mich doch jetzt nicht loswerden? Wo soll ich denn hin?« Da hatte ich meine Antwort.
Aber die Suche wollte ich noch nicht abbrechen. In den nächsten paar Stunden durchkämmten wir die umliegenden Straßen, und ich sprach Passanten an. Immer dieselbe Frage: »Haben Sie diesen Kater schon mal gesehen? Kennen Sie seinen Besitzer?« Immer dieselben teilnahmslosen Blicke, manchmal sogar ein »aufwendiges« Schulterzucken.
Rotpelzchen wich mir nicht von der Seite – bis auf eine weitere Pipi-Pause, für die er kurzzeitig von der Bildfläche verschwand. Beim Laufen in der frischen Luft kriegt man den Kopf frei, heißt es. Mir hingegen schwirrte der Kopf vor lauter Fragen: Wo kommt er her? Wie hat er gelebt, bevor er auf der Fußmatte in unserem Hausflur landete?
Ich ließ meiner Fantasie freien Lauf: Wie die Katzenmutter von gegenüber konnte ich mir gut vorstellen, dass er früher in einer Familie gelebt hatte. Er war so ein wunderschönes Tier, hätte als Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenk sicher jedes Kind begeistert. Aber rote Kater haben mehr Temperament als ihre Artgenossen, besonders die jungen, unkastrierten, wie ich gestern selbst hatte erleben dürfen. Sie sind viel dominanter und wilder. Ich vermutete also, je verrückter und unbändiger er sich beim Heranwachsen benahm, desto lästiger wurde er seiner Familie.
Ich hörte förmlich die Eltern stöhnen: »Jetzt reicht’s!« Aber anstatt ihn im Tierheim oder bei der RSPCA , dem bekanntesten Tierschutzverein Englands, abzugeben, haben sie ihn einfach ins Auto verfrachtet, sind mit ihm herumgefahren und haben ihn irgendwo ausgesetzt.
Katzen haben zwar einen stark ausgeprägten Orientierungssinn, aber bestimmt wurde er wohlweislich weit weg von zu Hause »entsorgt«, damit
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