Boccaccio. Der Dichter Des Dekameron.
es einer der größten Vorzüge des Dekameron, daß es gleich einem Speicher oder Juwelenschrank die Erfahrungen und Schicksale unzähliger Menschen und Zeiten in sich beschlossen hält. Viele von den Geschichten kamen aus dem Morgenlande, aus Griechenland und aus Frankreich, Spanien und Germanien her, viele sind schon sehr alt gewesen, andere wieder erst von gestern. Daß aber ein einzelner Mann diese zahllosen kleinen Stücke in seinem Gedächtnis gesammelt, alsdann geordnet und verbessert und am Ende zu einem großen, wundervollen Ganzen zusammengesetzt hat, dazu in einer von ihm selbst geschaffenen, vollkommenen Sprache – und das Ganze so ebenmäßig, rein und klar und in sich selber einig, als wäre alles am selben Tag und aus demselben Geist entstanden – dieses ist, so oft man es auch betrachte, ein fast unbegreifliches Wunder. Begebenheiten und Lehren, Spaße und weise Erfahrungen, die eine uralt, die andere frisch von der Gasse, die eine von Hofe, die andre aus dem Bettelvolk, die eine arabischen, die andre deutschen, die dritte französischen Ursprungs, lustige und klägliche, edle und gemeine, diese alle zusammen zu einem ein zigen prächtigen Werk vereinigt, aneinander gefügt und wie die Steine eines Geschmeides jede die Nachbarin hebend und verzierend, und dennoch jede einzelne bis in die geringsten Teile mit aller Kunst und Sorgfalt ausgebaut und zur Vollkommenheit gebracht! Wahrlich, wenn Boccaccio in seinem Leben eine große Torheit und Sünde begangen hat, so war es, als er sein unsterbliches Werk selber als eine müßige und leichtfertige Jugendarbeit und Verirrung verleumdete.
Allerdings genoß er zu seinen Lebzeiten den meisten Ruhm nicht um der Novellen, sondern um seiner gelehrten Werke willen, von welchen heute nur noch die Vita di Dante einigen Wert hat. Dennoch zählte er zu den unterrichtetsten Männern seiner Zeit, und indem er einen schönen lateinischen Stil schrieb, sich sehr um die alten Autoren bemühte und auch die damals nur wenig gepfegte Kenntnis des Griechischen auszubreiten bestrebt war, hat er ebenso wie Petrarca einen ruhmvollen Anteil an der Begründung des italienischen Rinascimento.
Von der Beschaffenheit, Einrichtung und Konstruktion des Dekameron will ich später sprechen. Über das Schicksal desselben ist wenig zu sagen, als daß es – unendlichen Anklagen und Verleumdungen zum Trotze – schon nach kurzer Zeit über mehrere Länder verbreitet war, auch seither in vielen Übersetzungen und Hunderten von Ausgaben immer wieder gedruckt worden ist. Unglücklicherweise ist keine Handschrift der Novellen von der eigenen Hand des Boccaccio er halten geblieben, und lange Zeit wurde mit dem Texte so nach Willkür umgesprungen, daß es erst später feißigen Gelehrten gelang, ihn so ziemlich wieder auf den Status quo ante zu bringen.
Das Dekameron hat häufge Wiedergeburten im Geiste anderer großer Dichter und Künstler gefeiert. Gleichwie in dem Schauspiel Nathan der Weise die dritte Novelle, von den drei Ringen, eine neue Gestalt annahm und wieder Tausende erfreute, so haben früher und später viele andere, vor allem Shakespeare, aus dem Schatze des Florentiners geschöpft, dessen Spuren in zahlreichen Dichtungen aller Völker zu fnden sind. Nicht weniger haben die Zeichner und Maler sich an ihm vergnügt und viele seiner Novellen in Bildern dargestellt; und noch im Jahre 1849 hat der britische Malermeister Millais aus der Novelle vom Basilikumtopf (Tag 4, Novelle 5) eine Szene in einem berühmten Gemälde abgebildet.
Der vielen anstößigen Stellen wegen hat man schon frühe des öfteren sogenannte verbesserte und purgierte Ausgaben veranstaltet. Was in solchen Fällen, zumeist von geistlichen Herren, am Text verballhornt und geschändet worden ist, läßt sich leicht denken. Dabei kümmerte man sich übrigens wenig um die derben und heiklen Stellen, sondern vor allem um jene, in welchen Boccaccio der Geistlichkeit unliebsame Wahrheiten gesagt hat. Einmal, ums Jahr 1570, wurden zu Florenz vier Herren ernannt zu der Aufgabe, das Dekameron endgültig von allen gegen die Satzungen der Kirche
Sandro Botticelli, Wilde Jagd
verstoßenden Stellen zu säubern. Da wurden, wo immer es nötig schien, aus den Mönchen Bürger und Ritter, aus den Nonnen Edeldamen gemacht, zwei von den Novellen wurden zu einem mysteriösen Unsinn verbessert, und als nach langer Mühe die Ausgabe vollendet war, zeigte es sich, daß den Herren eine der heitersten
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