Bodin Lacht
niemanden mehr, der ihn trösten wird. Er ist jetzt ganz allein, und für immer. Er wird für das, was er dir angetan hat, sehr teuer bezahlen, jetzt ist sein Leben definitiv futsch. Sein Fehler.
Marion hatte sich wie von der Tarantel gestochen aufgesetzt. Sie zuckte und brüllte: Super, super, super! Der soll krepieren! Sie rollte die Augen, gebärdete sich so wild, so wütend, dass Liliane einen Schritt zurück machte und sogar die Mutter erschrak. Sie drückte das Baby fester an sich, das zu weinen begann. Marion hatte ihr Kopfkissen genommen und es durch das Zimmer geschleudert, dasselbe passierte mit dem Album, in dem sie vorher geblättert hatte, dann mit den Kopfhörern und dem Walkman, sie fiel wieder nach hinten und gab eine lang anhaltende, herzzerreiÃende Klage von sich, bevor sie Worte und Sätze herausschrie, die nicht alle zu verstehen waren, denn auch das Baby brüllte sich jetzt die Lungen aus dem Leib. Er soll krepieren, brüllte Marion, er hat mich angefasst, sein ScheiÃding rausgeholt, wer, fragte Liliane, wer wird dich nie mehr anfassen? Er hat meinen Pyjama runtergezogen, seinen ScheiÃschwanz will ich nie mehr reiben, nie mehr lutschen, niemals, niemals, nie, nie. Sie rollte sich vom Bett und stürzte sich auf ihre Mutter. Niemals mehr. Sie klopfte mit den Fäusten auf Christines Bauch und Brust, die das Baby zu schützen versuchte, das weiter brüllte und brüllte, während Liliane Marion packte und in ihren Armen festhielt. Wieso Pyjama?, fragte sie, es war Nachmittag, deine Mutter sagte mir eben, du hattest deine Kordhose an.
FELD 62: DIE UNGEWISSHEIT DES
GEWISSENS
Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende.
J OHANN W OLFGANG VON G OETHE,
Maximen und Reflexionen
Warum?, wiederholte Paula. Warum? Bodin rieb sich eine Hand mit der anderen, schien zu frieren, obwohl das Hotelzimmer gut geheizt war. Seine Lippen waren leicht blau verfärbt.
Du musst zum Arzt, sagte Paula. Dein Herz. Du hast doch ein schwaches Herz. Nimmst du überhaupt deine Tropfen? Warum wolltest du dich nicht verteidigen? Ich hätte dir einen guten Anwalt besorgt, Jürgen, den Besten der Besten.
Bodin schien zu erwachen.
Der Beste der Besten. Ich erkenne dich wieder, sagte er.
Paula lächelte. Jürgen sprach wenigstens ganze Sätze. Als sie ihn vor zwei Tagen im Gefängnis besucht hatte, hatte er sich nur zu ein paar Worten, »Ach, du bist es?« und »Tschüss«, herabgelassen. Auf ihre Beteuerungen, bald sei er wieder frei, bald würde man zusammen Champagner trinken, bald sei seine Unschuld erwiesen, hatte Bodin mit einem Achselzucken reagiert, und einem verächtlichen Schnauben. ânschuld? Er hatte den Mund geöffnet und das Wort geniest, Unschuld Paula? Jetzt hatte er das Wort ausgesprochen, es klang aber so ironisch und verzweifelt, dass es Paula kalt den Rücken hinunterlief. Sie verdrängte so schnell sie konnte die gefährlichen Fragen, die sich unmittelbar stellten. Als sie sich verabschiedete, hatte er lieb gelächelt. Ein Lächeln aber wie ein Almosen.
Jetzt warteten sie in diesem Berner Hotel, bis alle Formalitäten zu seiner Entlassung erledigt waren und er die Schweiz verlassen durfte. Bodin sprach wieder, klang aber immer noch ironisch und depressiv.
Wir nehmen dich mit nach Hause, sagte Paula, du bist so gut wie frei. Die Kleine hat ausgesagt, du hast ihr nichts angetan.
Ich weiÃ, sagte Bodin.
Es war ihr Vater. Ihre Aggression hat sie auf dich verschoben.
Ich weiÃ, sagte Bodin.
Sie hat dich als Sündenbock für den Vater genommen. Stellvertretend. Eine komplizierte Geschichte. Du bist ja der Psychologe, du wirst es dir und uns erklären können, Herr Doktor Bodin.
Sag bloÃ, sagte Bodin.
Hat irgendwie gedacht, das arme Ding, wenn du für ihn ins Gefängnis gehst, wird sich ihr Vater nicht mehr an ihr versündigen. Abschreckungseffekt. Oder so was.
Versündigen. Seit wann benutzt du dieses religiöse Vokabular?, grinste Bodin. Sind wir wieder gläubig?
Paula seufzte vor Erleichterung. Auch du kommst wieder zum Vorschein, lächelte sie. Sag mir endlich, warum du dich nicht verteidigen wolltest?
Jetzt hast du mich ja gerettet.
Ich fürchte, du bist gar nicht zu retten, Jürgen, deine Entlassung verdankst du übrigens nicht direkt mir.
Wem verdanke ich meine Freiheit, wenn nicht dir?
Er schien keine Antwort zu erwarten,
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