Bodin Lacht
konnte ein Kinderschänder sein, und sogar Martin, der in eigener Verwirrung Bodin als Evelyns Mörder verdächtigt hatte, teilte hundertprozentig diese Meinung. Alles war ein böses Missverständnis, dem sie jetzt auf den Grund gehen wollten. Vor der Abfahrt hatte sich Simone auf Paulas Bitte in das Schweizer Strafgesetzbuch vertieft und ihre Chefin nicht beruhigt, als sie behauptete, dass Bodin, falls er das Mädchen nicht vergewaltigt hätte, höchstens fünf Jahre Gefängnis drohen würden. Paula hatte bei einem ihr gut bekannten Untersuchungsrichter alle Hebel in Bewegung gesetzt, um etwas in Erfahrung zu bringen, dieser Mann wiederum hatte mit der deutschen Botschaft in der Schweiz telefoniert: Bodin sei in der Tat in Untersuchungshaft. Er habe die zwölfjährige Tochter seiner Wirte belästigt, vielleicht missbraucht, vermutlich zu bedauernswerten sexuellen Handlungen verleitet. Er habe bis jetzt den Beistand eines Rechtsanwalts abgelehnt und sich zu den Vorwürfen nicht äuÃern wollen. Die Behauptungen des Kindes seien umso glaubhafter, da dieser Mann sich als neurotischer Lügner entpuppt habe, nur der Name, den er angegeben habe, stimme, sonst habe er Beruf und Lebenslauf erlogen, auÃerdem zeige ein Text auf seinem Computer, dass er krankhafte Fantasien hege, darüber hinaus hätten Dorfbewohner beobachtet, wie er weitere Kinder angesprochen habe. Ein psychiatrischer Gutachter sei bestellt worden, aus Urlaubsgründen aber zurzeit nicht anwesend. Weihnachten stehe vor der Tür, das Land sei mit Aussuchen, Einwickeln, Verschnüren, Wegschicken von Geschenken und mit Urlaubsvorbereitungen nahezu lahmgelegt. Viele Arbeitnehmer pausierten und sogar die Schritte der Justiz verlangsamten sich im Weià der Jahreszeit. Der Wohnort des Opfers wurde Paula zwar genannt, der befreundete Richter aber verschwieg den Namen der Familie. Lasst das nur meine Sorge sein, warf Paula ein und legte ihre Stirn bedeutungsvoll in Falten, das groÃe Geheimnis knacken wir im Nu, ich weiÃ, wie leicht solche Geheimnisse in einem Kaff zu lüften sind. Martin fragte sich, woher seine Mutter so etwas wissen konnte, die GroÃstädterin, die nie länger als eine Woche in den Bergen verweilte und dies in einem Viersternehotel in Davos. Liliane schwieg, sie saà hinten und gab sich einer träumerischen Stimmung hin. Sie fühlte sich angenommen in dieser eigenartigen Familie, hielt zwar Abstand zu Paulas leidenschaftlichen Behauptungen, versuchte auch nicht sich einzumischen, wenn Martin und Paula stritten, Martin lenkte sowieso immer schnell ein, aus Gewohnheit und Ãbung oder weil Paulas exaltierte Art ihm ein wenig peinlich war. Ãfter schwieg die ganze Mannschaft, Liliane versank in ihren Erinnerungen an Bodin, vor allem das letzte Bild von ihm stieg wieder hoch: Wie er am Bahnhof auf dem Bahnsteig stand und ihr eine Plastiktüte voll Schweizer Franken reichte, als hätte er eine Schweizer Bank ausgeraubt. Alles Gute, Christine, denk an unsere Abmachung, leb in der Gegenwart, schau dir die Welt zu Fuà an, erkunde die Natur, betrachte, rieche sie, leb den Augenblick, ohne groà nachzudenken! Er hatte sie zum ersten Mal geduzt und kurz umarmt, bevor sie einstieg. Sie sah ihn hinter einem Tränenschleier winken. Dieser Augenblick des Abschieds war der Anfang einer Befreiung gewesen, eine Tür fiel hinter ihr zu und versperrte den schwarzen Tunnel, in dem sie so lange eingesperrt gewesen war.
Paulas Raserei machte indessen Martin nervös und hinderte ihn, sich über seine wiedererlangte Freiheit zu freuen und klare Gedanken zu fassen. »Ein graues Seelchen weniger«, was spielt das für eine Rolle? Hatte das Bodin nicht einmal gesagt? Ja, es hatte aber nichts zu bedeuten, sagte er sich, ein deprimierter Bodin könne auch Unsinn schwatzen. Er, Martin, wolle jetzt an Bodins Unschuld fest glauben. Seine Sympathie für den Ersatzvater von damals, ihre Art lustiger Komplizenschaft gegen die Mutter, dies alles lebte doch noch in seinem Gedächtnis.
Paula versuchte, sich nicht zu erinnern. Sie konzentrierte sich gleichzeitig auf die StraÃe und auf ein Bild Bodins im Stil eines niederländischen Malers aus dem 16. Jahrhundert: Der alte Freund in einem dunklen Kerker eingesperrt und zusammengebrochen. Er hockte auf der Pritschte und schaute verloren vor sich hin. Mit jedem überholten Wagen näherte sie sich ihm. Sie wunderte sich über
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