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Bodin Lacht

Bodin Lacht

Titel: Bodin Lacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sylvie Schenk
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ihre eigene Empathie: Hatte sie doch noch vor zwei Tagen gedacht, dass Bodin sie überhaupt nicht mehr interessierte. Wie unvorhersehbar der Mensch doch ist! Wie bodenlos die aufgewühlte Gefühlsgrube, wo ein Unglück das nächste unter vier Augen anstarrte, wo Kummer der Kindheit und des Alters ihre Tränen mischten, wo die Vergangenheit mit dem Schwanzschlag eines Dinosauriers die dünne Oberfläche der Gegenwart krachen ließ.
    Als sie über die Grenze waren, genoss Liliane nur noch die Landschaft und spürte die Freude – entsprechend der Berglandschaft – in sich aufsteigen. Schwarz-weiß, vor allem weiß erhoben sich die Gipfel, die sich kaum vom blassen Himmel unterschieden. Sie war regelrecht von Sehnsucht ergriffen und nahm sich fest vor, ihre nächsten Ferien im Berner Land zu verbringen. Schneeflocken wirbelten leicht um sie, und als sie auf einem Parkplatz kurz anhielten, zeigte ihr Martin ein Rotkehlchen, das sich auf ein von Picknickern hinterlassenes Krümelchen stürzte. Der Vogel mit dem rostigen Latz am Hals pickte seine minimale Nahrung aus dem weißen Pulverschnee im Rhythmus eines Rock-and-Roll-Songs, der aus dem Autoradio strömte, und beide, Liliane und Martin, spürten einen Augenblick des Glücks.

FELD 59: BEIM SCHMÜCKEN DES TANNENBAUMS
    Gott geht auf krummen Wegen gerade.
    P ORTUGIESISCHES S PRICHWORT
    Während Paula und Martin sich in einem Berner Hotel einquartierten und sich um eine Besuchserlaubnis für die Untersuchungshaft bemühten, fuhr Liliane mit Paulas Wagen in das Dorf der Familie Suter. In der Tat war es einfach gewesen, die Adresse des mutmaßlichen Opfers zu bekommen. Das ganze Dorf tuschelte. In der Bäckerei wies sich Liliane offen als deutsche Polizistin aus, die den Fall Bodin mit den Schweizer Kollegen untersuchte, und schon zeigte ihr die naive Bäckerin den Weg zum Chalet von Christine Suter. Dass sie kein offizielles Mandat und die Adresse und Namen des Opfers nicht kannte, wurde nicht wahrgenommen oder kümmerte niemanden. Vielleicht freute sich die rotbäckige Bäckerin auch, eine kleine Rolle in der Tragödie zu spielen, und sei es die einfache Rolle eines Wegweisers. Sie sprach vom armen Chend, und da Liliane fragend schaute, vom armen Kind.
    Bei den Suters vertraute Liliane wieder ihrem Instinkt und den zwei Säulen ihrer Methode: Klarheit und eine flexible Wahrheit. Ich heiße Liliane Hoffmann, sagte sie an der Tür, ich komme aus Deutschland. Ich bin eine ehemalige Patientin des inhaftierten Herrn Doktor Bodin. Er hat mir vor acht Jahren das Leben gerettet und ich bin da, weil ich versuchen möchte zu verstehen, was passiert ist. Sie stand am Eingang und biss sich auf die Lippe. Darf ich kurz mit Ihnen sprechen? Frau Suter musterte sie. Ihr verschlossenes Gesicht ließ nichts Gutes ahnen und doch ließ sie Liliane herein, vielleicht weil die Kälte durch die offene Haustür ins Zimmer eindrang, vielleicht weil Lilianes Gesichtsausdruck keinen Zweifel zuließ: Diese Frau log nicht, hatte keine Kamera umgebunden, sah nicht wie eine Journalistin aus, schaute aufrichtig. Möglich war auch, dachte Liliane, dass selbst Christine das Geschehen nicht ganz nachvollziehen konnte und den Wunsch hatte, sich über Bodin Klarheit zu verschaffen. Marion saß am Fuß eines Tannenbaums und warf Liliane einen angstvollen und feindlichen Blick zu. Sie stand nicht auf und gab schmallippig den Gruß zurück. Ihre Mutter und sie waren anscheinend dabei gewesen, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Auf dem Boden lagen Kartons mit Girlanden, Sternen und Kugeln. Auf einer pastellblauen Decke spielte ein Baby mit einem roten Band. Verzeihen Sie, sagte Liliane und zog Mütze und Handschuhe aus, ließ aber ihren Mantel an, ich weiß, dass ich Sie überfalle und dass es völlig unangebracht ist, ich musste es aber für mich tun, es hätte mir keine Ruhe gelassen.
    Wieso das Leben gerettet?, fragte Christine Suter.
    Ich fürchte, ich kann Ihnen das nicht so genau vor dem Mädchen erklären, sagte Liliane. Ich war achtzehn und drei Mitschüler haben mir bei einer Fete Gewalt angetan.
    Vergewaltigt?, fragte Marion und warf die Girlande weg, die sie in den Händen hielt. Haben sie Sie vergewaltigt?
    Bitte, Marion, geh lieber in dein Zimmer, befahl Christine. Wir schmücken später den Baum zu Ende.
    Nein.
    Weißt du, was das bedeutet, vergewaltigt?, fragte Liliane

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