Bodin Lacht
Pseudo-Selbstmorddrohungen.
Sie war von Abscheu erfüllt, hoffte, dass Herr K. durch Zaubersprüche, die sie Otta eintrichterte, unter Qualen in die Hölle befördert würde. Hätte sie Pestbazillen besessen und wäre Otta eine Brieftaube gewesen, hätte sie den Vogel zu dem Stadtgefängnis geschickt, um Herrn K. zu infizieren. Paulas Hass kam nur vorläufig zur Ruhe, als sie ihren Sohn wieder in die Arme schloss, doch dieses zerwühlende Gefühl verlieà sie nie ganz, es unterminierte ihr restliches Leben, stach sie oft unerwartet in die Brust, verdarb ihr die friedlichsten Augenblicke, die besten Gespräche, es war, dachte sie, vielleicht ihre Strafe, für das Nicht-richtig-hingehört-Haben. Sie wurde zu immer wiederkehrender Bewusstmachung ihres Versäumnisses verurteilt. Später, viel später, würde sie ihren Glauben an Gott wiederherstellen, das hieà Gott selbst wieder erschaffen, damit sie, in die Rituale der katholischen Kirche schlüpfend, nach einer herkömmlichen Beichte in einem echten Beichtstuhl einer realen Kirche die Vergebung ihrer Sünde erhielt.
Auch Martin wurde von Gewissensbissen geplagt. Evelyn war in eine dramatische Geschichte hineingerutscht, Woche für Woche in diesem Morast tiefer versunken, ohne sich rechtzeitig befreien zu können. Sie hatte keinen Weg aus ihrer Zwickmühle gefunden; wenn sie ihn und andere Freunde ansah, auch ihre Mitbewohnerin, ihre Eltern, blickte sie in ahnungslose Gesichter, die ihrer Pein so verschlossen blieben wie blinde Fenster. Wie einsam hatte sie sich fühlen müssen, wie gefangen, wie ohnmächtig. Martins Traurigkeit und Reue lösten sich aber oft in dem Gefühl auf, auch nach Evelyns Tod ihr nahe zu sein; im Gegensatz zu seiner Mutter bewegte er sich ganz leicht in überirdischen Sphären, glaubte, ohne dass es ihm bewusst war, an eine magische, bessere Welt, und befand sich weiterhin bei der seelenverwandten Frau, die ihn zu einer Ausstellung von Bettina Rheims gebracht hatte; er verweilte dauerhaft bei der hochbegabten Musikerin, deren Geist in ihre Finger floss, wenn sie Bach oder Mozart spielte, für ihn war Evelyn in ihrem tiefsten Wesen ein echter Engel, den nichts Irdisches beschmutzen konnte und der nicht für immer verschwunden war. Nach der Verhaftung von Herrn K. trauerte er ein zweites Mal um sie, so intensiv, dass ihm tagein, tagaus das Gefühl innewohnte, ihre Hand in seiner festzuhalten. Er tröstete sich, indem er sie tröstete und ihre Anwesenheit an seiner Seite heraufbeschwor.
Am Rand neben den Hauptberichten in den Zeitungen konnte man verschiedene Kommentare zur sozialen Lage der Künstler und Musiker lesen, die so wenige Hilfeleistungen der Stadt, des Landes und des Staates erhielten, in einer Zeit, in der Musik- und Kunstliebhaber jeden Cent umdrehen mussten, bevor sie einen Fuà in eine Ausstellung oder in ein Konzert setzten, in der es aber am notwendigsten sei, verwilderte Jugendliche zur Kreativität anzuregen. Ein Moralist prangerte die Doppelmoral einer Gesellschaft an, die einerseits die Wichtigkeit der Kunstideale für die Konsumzivilisation pries und dennoch zu wenig unternahm, um die lebenden Künstler zu fördern.
Als Paula die ausgebreitete Zeitungsseite las, blieb Simones Blick, die trotz der stürmischen Schwingungen des Blattes die Rückseite gleichzeitig zu entziffern versuchte, an einem kleinformatigen Artikel hängen: Ein Mitbürger der Stadt, der bekannte Psychotherapeut K. C. (Initialen verändert), sei in der Schweiz verhaftet und in ein Berner Gefängnis eingeliefert worden. Er werde pädophiler Handlungen beschuldigt.
58. DIE GEFÃHLSGRUBE
Was wir von jemandem wissen, hindert uns daran, ihn zu kennen.
C HRISTIAN B OBIN, Le Très-Bas
Am 20. Dezember kamen sie alle drei in der Schweiz an. Paula Vanderbeke saà am Steuer, energisch und nüchtern, fuhr schnell, zu schnell und wurde zwei Mal geblitzt. Sie hatte es abgelehnt, von Liliane oder Martin abgelöst zu werden, war blass vor Erschöpfung, aber wild entschlossen, ihren ehemaligen Freund zu retten. Die ganze Fahrt hatten sie über einen mutmaÃlichen Pädophilen Jürgen Bodin diskutiert, ein Austausch von Erinnerungen und Vermutungen eher als eine Diskussion, denn alle waren sich im Wesentlichen einig: Der Arzt und Psychotherapeut, Professor Doktor Jürgen Bodin, der Freund, der Vaterersatz, keiner dieser Drei-Menschen-in-Einem
Weitere Kostenlose Bücher