Bodin Lacht
und Schülern meiner Stufe und war für die anderen eine schlecht gekleidete Streberin und wurde selten eingeladen. Ich hörte ihre Musik nicht, konnte mit Klamotten, Freizeit und Hobbys nicht mithalten, ich hatte mich damit â glaubte ich â abgefunden und hielt mich im Hintergrund, zugegeben, ich lieà sie gern meine Geringschätzung für ihre schlechten Leistungen spüren.
Martin wollte etwas Tröstendes sagen, vielleicht auf seine eigene Position als AuÃenseiter in der Schule hinweisen, begriff aber rechtzeitig, dass er nur zuhören sollte.
Für Robin hatte ich eine Schwäche, die er sicherlich gespürt hatte: Er warf mir ab und zu ironische Blicke zu, die mich durcheinanderbrachten, die ich stets fehlinterpretiere. Ich wollte eine Art Komplizenschaft herauslesen, eine Art wohlwollende Ohnmacht, die uns aber beide aus der dummen Gruppendynamik abhob, ein »Sieh mal da, Liliane, wir sind zwar nicht füreinander geschaffen, wir leben in verschiedenen Welten, du und ich, aber wir sind schon besser als diese Meute«. Nur der erste Teil meiner Interpretation stimmte: Wir stammten sozial gesehen von zwei verschiedenen Planeten. Nun hatte mich Robin zu seiner Fete eingeladen, und ich kann dir nicht beschreiben, wie glücklich und aufgeregt ich war, unter denen zu feiern, die ich zu verachten glaubte. Ich hatte mich richtig aufgeputzt, mir ein neues T-Shirt gekauft, irgendein Zeug ins Haar geschmiert, Ohrringe meiner Mutter ausgeliehen. Ich merkte, wie zwei Mädchen über mich kicherten, als Robin mit mir tanzte, eifersüchtige, dachte ich, neidische, blöde Zicken. Ich trank mehr als gut war, eine Rum-Cola nach der anderen, ein neues Leben fing an, eine brillante Zukunft erwartete mich, im Gegensatz zu den zwei kichernden Frauen, die es mit ihren mittelmäÃigen Noten nicht weit bringen würden, eine Zukunft, die ich nur mir verdankte und nicht meinen Eltern wie Robin und seine Freunde, die ebenfalls auf der Warteliste der Numerus-Clausus-Fächer gelandet waren, und sich gedulden mussten, bevor sie das Gewünschte studieren konnten. In den Sommerferien würde ich als Au-pair nach England gehen, dann ein Jurastudium in Münster anfangen, ein Stipendium war mir zugesichert worden, und in Robins Blick schien sogar etwas wie Liebe zu leuchten. Ach, Martin, das Leben war auf einmal wunderbar.
Viele waren nach Hause gegangen, Robin und ich stieÃen noch einmal im Garten seiner Eltern an, und als er mich küsste, war ich willig, glücklich, bereit, mit ihm zu schlafen, für mich das berühmte erste Mal, höchstwahrscheinlich als einziges Mädchen der Stufe war ich noch Jungfrau.
Liliane unterbrach sich kurz, um ihre Hand zu befreien. Sie sprach weiter, trocken und leise: Er hat mich in den Geräteschuppen im hinteren Teil des Gartens gebracht, und kaum lagen wir da, auf einer alten Matratze, sind zwei weitere Jungen gekommen. Alle drei haben sich auf mich gestürzt, mir die Klamotten vom Leib gerissen, den Rest kannst du dir ausdenken.
FELD 56: HAND IN HAND
Doch als die Hexe zum Ofen schaut hinein,
Ward sie gestoÃen von unserm Gretelein.
Lied, A NONYM
Beide saÃen immer noch auf Bodins Couch, Hand in Hand, und Liliane hatte sich wieder im Griff. Wie geht es weiter, fragte Martin einfach, und Liliane lachte ein bisschen schräg: Du meinst: Wie ging es weiter? Es folgten schlimme Monate. Ein Tunnel ohne Ende. Habe mich nach Hause geschleppt, anstatt zur Polizei oder ins Krankenhaus zu gehen, ich konnte das nicht, ich hatte Angst vor den drei, vor den Lügen, die sie auftischen würden, ich schämte mich, ich war so naiv gewesen und hatte auch viel zu viel getrunken, ich fühlte mich wie ein Stück ScheiÃe, wusste nicht mehr, wer ich war, was ich war, die Schweine hatten mich aus meiner normgerechten Zukunft ausgestoÃen, ich war kaputt, und sehr, sehr lange danach fürchterlich einsam. Ich habe meinen Eltern nie etwas erzählt, die dachten an irgendeinen Liebeskummer, hofften, es gehe irgendwann vorbei. Ich bin nicht nach England gefahren, habe nicht studiert, wollte eine Zeit lang eine Ausbildung als Krankenschwester machen, aber auch das habe ich nach einigen Wochen hingeschmissen. Ich wollte nur eins: Verschwinden, Tabletten nehmen, nicht mehr aufwachen. Eine Tante hat mich zu Doktor Bodin geschickt und die Therapie bezahlt. Ich wollte nichts Offizielles. Keine Krankenkasse einschalten. Ich wurde Christine
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