Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Boeses Spiel

Titel: Boeses Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
Vom Netzwerk:
ist doch besser, dass es hier keine Schaukel gibt. Sie wäre an Seilen befestigt. Seile oder Stricke
kann man sich auch gut um den Hals legen, wenn man Schluss machen will. Erhängen ist grässlich. Ich persönlich würde nie auf solch eine Idee kommen, ich weiß nicht mal, wie man eine Schlinge macht, die dazu taugt. Ich will es auch gar nicht wissen. Aber das ist vielleicht der Grund, warum wir keine Schaukel haben.
    Gestern habe ich im Garten mit Malte Schach gespielt. Malte hält sich für einen sehr guten Schachspieler. Er hat bestimmt ein Dutzend Eröffnungen im Kopf. Er liest Bücher über Schach, über berühmte Partien. Er weiß alles über Kasparow. Ich sehe ihn immer nur über sein kleines Taschenschachbrett gebeugt. Im Aufenthaltsraum, im Garten oder auf den Fluren des Klinikums, wenn er auf einen Arzttermin oder eine Behandlung wartet. Er spielt gegen sich selbst. »Ich gewinne immer«, sagt er. »Mich schlägt keiner.« Es klingt für mich irgendwie so, als wären diese Siege die einzigen in seinem Leben. Als wäre er sonst oft geschlagen worden. Bei Gelegenheiten, die nichts mit Schach zu tun haben. Als er herausbekam, dass ich auch gerne Schach spiele, hat er mich sofort zu einer Partie eingeladen.
    Warum nicht? Es vertreibt die Zeit.
    Malte hatte die weiße Dame, durfte also den Eröffnungszug machen. Zieht natürlich den Königsbauern, ich ebenfalls. Er greift meinen Bauern an. Ich zieh mit dem Läufer. Die Grundstellung der Spanischen Partie. Aber was macht er draus? Wie entwickelt er seine Figuren? Alles so leicht durchschaubar. Ich konnte drei Züge von ihm im Voraus berechnen. Das war alles so durchsichtig! Gähn! Ich hätte ihn schon nach dem achten Zug schachmatt setzen können, und ich habe außerdem immer so getan, als müsste ich wahnsinnig nachdenken vor jedem Zug. Wenn Malte erst
mal weiß, dass ich ihn schlagen kann, will er bestimmt nicht mehr mit mir spielen.
    Wenn wir zu Hause Rommé spielen, verliert Mama immer. Und Papa holt dann eine Schachtel Nougatkonfekt heraus, um den Sieg zu feiern. Die Kerle wollen immer gewinnen, sagt Mama. Man muss sie lassen. Ich glaube aber nicht, dass sie das wirklich ernst meint.
    Meine Mutter war früher Jugendbezirksmeisterin im Schach. Sie hat es mir beigebracht. Sie hat mit mir trainiert, um mich fit zu machen für die Jugendmeisterschaften. Mama hat immer so eine Energie, so einen Riesenehrgeiz.
    Aber ich interessierte mich zu der Zeit schon viel mehr für alles, was mit Medizin zusammenhing. Als ich neun war, wollte ich Ärztin werden. Ich wünschte mir zum Geburtstag ein Mikroskop. Ich hab mir von meinem Fuß einen kleinen Schnipsel Hornhaut abgeschnitten und jeden Tag unter dem Mikroskop beobachtet, wie sich die Haut verändert. Ich hab mir Haare ausgezogen, meine abgeschnittenen Fingernägel und einmal sogar meinen Nasenrotz untersucht.
    Meine Lieblingsbücher in der Stadtbibliothek von Dobroje waren ausnahmslos medizinische Bücher. Dort hab ich alles Mögliche nachgelesen, wie das Blut im menschlichen Körper zirkuliert oder wie Eiter entsteht - als ich gerade eine Wunde am Knie hatte. Das war spannend.
    Kinderbücher hab ich nie gelesen. So was fand ich immer langweilig. Die dritte Schulklasse damals in der Ukraine hab ich übersprungen. Ich war von da an überall die Jüngste, aber das hat mir nichts ausgemacht.
    Vielleicht erzähle ich das alles irgendwann mal Malte, wenn wir genug Vertrauen zu einander haben. Mal sehn.
    Ich weiß nicht, weshalb Malte hier ist. Ich könnte Dr. Wiedemann
fragen, er würde es mir bestimmt sagen. Aber egal. Ich weiß nicht einmal, wie alt Malte ist, ich schätze, ein oder zwei Jahre älter als ich. Seine Nägel sind so abgekaut, dass die Fingerkuppen oft bluten. Dann trägt er Handschuhe aus dünner Baumwolle, die an den Handgelenken zugebunden sind. Meistens versteckt er seine Hände hinter dem Rücken, weil er sich vielleicht schämt. Ich verstehe nicht, wie jemand seine Finger so anknabbern kann, dass es blutet. Das tut mit Sicherheit wahnsinnig weh, weil an den Fingerkuppen die Nervenenden sind. Ganze Nervenbündel. Extrem empfindlich.
    Aber vielleicht verstehe ich es doch, warum er sich selbst Schmerzen zufügt. Es ist auch eine Art, sich daran zu erinnern, dass man lebt.

    Niemand kommt ohne Erlaubnis in unsere Abteilung, das hat Dr. Wiedemann mir erklärt. Er sagt, hier bin ich vor bösen Überraschungen geschützt. Jeder Besucher braucht eine Genehmigung des Klinikarztes und auch dann gelangt er nur

Weitere Kostenlose Bücher