Boeses Spiel
leider doch nicht so viel Zeit für uns hätte. Und mein Vater sprang schon auf, weil er dachte, wir würden gleich wieder rausgeschmissen. Aber Frau Feddersen bat ihn, sich wieder zu setzen, denn wir hätten eines ja gar noch nicht besprochen: Ob sie denn überhaupt wollten, dass ich aufs Gymnasium gehe.
Und dann erzählte sie von der Lehrerkonferenz, wo alle Lehrer (ALLE!) sich dafür ausgesprochen hatten. Dass man mir jede Chance geben möchte, weil man glaube, dass in mir »viel Potenzial stecke«. Und auch, dass ich diesen Ehrgeiz habe, das hätten sie immer gemerkt. »Du brennst ja richtig«, sagte Frau Feddersen. »So hätte ich mir auch manch anderen Schüler gewünscht.« Sie hätten vor der Entscheidung gestanden, mich eine Klasse überspringen zu lassen oder mir eben zu empfehlen, die Schule zu wechseln. Aber sie seien sich alle einig gewesen, dass ich die Chance haben müsste zu studieren. Und das ginge mit Realschulabschluss
nun einmal nicht, auch wenn ich in jedem Fach auf einer Eins stünde.
Meine Mama erzählte, dass ich oft nachts noch deutsche Bücher gelesen habe, um meinen Vokabelschatz zu vergrö ßern, und dass ich mir besonders komplizierte Redewendungen und Grammatikregeln auf kleine gelbe Post-it-Zettel geschrieben habe, die immer am Badezimmerspiegel klebten. »Ich habe oft gedacht«, sagte meine Mutter, »dass Svetlana zu viel tut, dass sie krank davon wird.«
»Aber ich bin nicht krank geworden«, warf ich ein. »Ich bin pumperlg’sund.« (Das Wort »pumperlg’sund« hatte ich gerade neu in meinen Wortschatz aufgenommen. Weihnachten war der Sissi-Film mit Romy Schneider wiederholt worden. Die Sissi sagte immer: »pumperlg’sund.«)
Frau Feddersen lächelte mich an. Ihr war wohl ziemlich schnell klar geworden, dass meine Eltern mir keine Steine in den Weg legen würden, um aufs Gymnasium zu wechseln. Sie war erleichtert und erzählte von einem anderen ukrainischen Elternpaar, das sich überhaupt nicht anstrengte, Deutsch zu lernen, und ihre zwei Söhne (ich kannte die beiden) auch nicht dazu anhielt, in der Schule Ehrgeiz zu entwickeln.
Vielleicht hat sie sich deshalb so für mich engagiert, um selbst auch ein Erfolgserlebnis zu haben.
Sie bot dann meinem Vater einen Cognac an, den er aber, obwohl er Cognac liebt, erschrocken ablehnte. Ich denke, er wollte vor der Direktorin nicht als Säufer erscheinen. Dabei hatte sie es doch nur nett gemeint.
Jedenfalls endete der Besuch damit, dass Frau Feddersen mich umarmte und mir sagte, ich könnte immer zu ihr kommen, wenn ich ein Problem hätte. Aber sie sei sicher, auch an der neuen Schule würde es keine Probleme geben.
Sie fand es auch richtig, dass ich nicht bis zu den Sommerferien warten musste, um aufs Gymnasium zu wechseln, sondern jetzt sofort gehen konnte. »Jeder Monat zählt«, sagte sie eindringlich, »und du musst ohnehin eine immense Stofffülle aufholen. Ist dir das bewusst?«
Ich nickte. Ich hatte vor Aufregung einen Kloß im Hals. Eigentlich wollte ich sagen, dass mich die Stofffülle überhaupt nicht schreckte, dass ich im Gegenteil neugierig auf alles Neue war. Aber ich bekam es irgendwie nicht heraus.
»Der Erlenhof«, sagte sie, »ist eine Schule mit angegliedertem Internat. Da herrscht eine besondere Stimmung, da halten die Schüler mehr zusammen; sie betrachten sich als eine Familie, weil sie ihre wirklichen Familien nur einmal im Monat sehen können oder in den Ferien...« Frau Feddersen erwähnte, dass sie es sich als Schülerin immer gewünscht habe, in solch einem Internat zu leben, weil es dort viel interessanter war. Aber ihre Eltern seien dagegen gewesen.
»Ich beneide dich«, sagte sie mir zum Abschied. »Sicher wirst du später, wenn du erwachsen bist und einen Beruf hast, diese Zeit als die schönste deines Lebens betrachten. Und solltest du doch einmal Sorgen haben«, wiederholte sie, »so findest du hier immer eine offene Tür. Jederzeit bist du herzlich willkommen, um deinen Kummer bei mir abzuladen.« Sie gab mir einen Kuss auf die Wange; er roch nach Salbei. »Ich möchte einfach, dass aus dir einmal etwas Großartiges wird. Du hast besondere Begabungen. Mach deine Eltern stolz«, sagte sie. »Überzeuge sie davon, dass es sich gelohnt hat, hierher nach Deutschland zu kommen.«
Ich war ziemlich aufgeregt. Mein Kopf glühte. Denn natürlich war es von Anfang an mein Wunsch gewesen, aufs
Gymnasium zu kommen. Ich wollte unbedingt das Abitur machen, um später studieren zu können. - Selbst jetzt,
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