Boeses Spiel
Gemeinde.
Aber es passierte nichts. Meine Mutter sagte dann: »Das Militär macht doch überall, was es will.« Mama hasste das Militär.
Der Lange See ist für die Wohlstorfer das Sommerparadies. Obwohl es ein Moorsee ist, ein stehendes Gewässer, über
dem im Sommer dichte Mückenschwärme kreisen. Die Erde am Ufer ist schwarz. Man kann kein helles Handtuch dort ausbreiten, das würde die Schwärze sofort annehmen. Wenn es heiß und trocken ist, wird die Erde wie Kaffeepulver, jeder Windstoß wirbelt sie auf, nach einem Regenguss ist alles schwarzer Schlamm. Der Lange See hat, gesehen aus der Vogelperspektive, die Form einer Banane, weshalb er von den Leuten Chiquita-See genannt wird. Er ist von dichtem Schilf umstanden. Es gibt nur zwei oder drei kleine Buchten, in denen der Zugang zum See erlaubt ist. In einigen Schilfabschnitten brüten alle möglichen seltenen Wasservögel. Die darf man nicht stören. Deshalb ist dort alles mit Maschendraht abgesperrt. Aber manchmal sieht man die Vogelschwärme aus dem Schilf aufsteigen wie aufgeschreckte Hühner, oder sie schwimmen in Massen aus dem Schilf heraus aufs offene Wasser, dann hört man ihre heiseren Schreie.
Meine Eltern sind mit mir nie an den See gefahren. Meine Mutter kann nicht schwimmen. In dem sibirischen Ort, in dem sie gelebt hat, gab es keine Gelegenheit, das zu lernen, und später war sie wohl zu stolz oder zu verlegen, es einzugestehen. Papa hat nie gesagt, ob er schwimmen kann oder nicht. Er sagte immer, Wasser interessiere ihn nicht.
Deshalb also war ich bisher nur ganz selten am Chiquita-See gewesen. Und ich habe mich auch nie getraut, in der Bucht zu schwimmen, die an das Internatsgelände grenzt. Niemand aus unserer Schule in Wohlstorf machte das. Das Internat war irgendwie etwas anderes, etwas Fremdes, es gehörte in diese Gegend und auch wieder nicht. Die Schüler aus den höheren Klassen des Erlenhofs kamen manchmal in unseren kleinen Ort (am späten Nachmittag gab es eine
Busverbindung), besetzten im Sommer die besten Plätze vor dem Eiscafé, trugen Sonnenbrillen und machten auf cool. Viele trieben sich auch am Bahnhof herum, genauer vor dem Kiosk, und deckten sich da mit Snacks und Chips ein, all solchem Zeug, das es im Internat nicht gab (wie ich mich bald selbst überzeugen konnte), weil es die Zähne kaputt macht. Ich hab auch mal zufällig gesehen, wie einer der Jungen - der war bestimmt nicht älter als zwölf oder dreizehn - eine Flasche Whisky am Kiosk kaufte und sie unter seiner Jacke versteckte.
Wenn Leute aus meiner Schule am Bahnhof waren, weil sie auf einen Zug warteten oder auf dem Vorplatz einfach nur abhängen wollten, kam es fast nie zu irgendwelchen Kontakten. Die Erlenhofer blieben unter sich und wir Wohlstorfer auch, als habe jeder seinen Stolz.
Manchmal kam auch ein Trupp von ihnen abends in den »Anker«, eine gemütliche Kneipe in der Hauptstraße. Der Wirt war ein cooler Typ und er mochte junge Leute. Die Erlenhofer kamen hierher, wenn sie etwas zu feiern hatten, oder auch wenn sie etwas besprechen wollten, was besser nicht im Internat besprochen werden sollte.
Sie trugen, wenn sie das Internat verließen, immer ihre Schulkleidung: im Winter ein dunkelgrünes Sweatshirt mit dem Aufdruck ERLENHOF GERMAN COLLEGE, im Sommer weiße T-Shirts mit dem entsprechenden dunkelgrünen Aufdruck. Schon durch diese Kleidung wirkten sie wie eine homogene Truppe, wie Leute, die wirklich zusammengehörten.
Wir Wohlstorfer saßen an den Nebentischen, hörten, wie sie lachten und redeten, sahen, wie sie sich umarmten und miteinander ganz ungeniert kuschelten, wie sie die Köpfe
über irgendwelchen Papieren zusammensteckten und sich heißredeten über ein Theaterstück oder einen Roman, hörten, wie sie großkotzig Bier bestellten und lauthals ihre Trinksprüche anstimmten. Jeder wusste, dass die Erlenhofschüler keinen Alkohol trinken durften, aber dem Wirt war es egal. Und wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Einmal habe ich gesehen, wie ein Schüler - er war schon über achtzehn - so betrunken aus dem Anker gekommen ist, dass die anderen ihn stützen mussten. Wie einen Sack haben sie ihn über die Lenkstange des Fahrrades gelegt und sind mit ihm weggeradelt. Der Wirt hat am Fenster gestanden und ihnen nachgesehen, die Lippen bedenklich verkniffen. Schließlich hätte er aufpassen können, dass so was nicht passiert. Als die gleiche Gruppe eine Woche später wieder da war, wurde nur Cola getrunken. Wir saßen am Nebentisch
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