BookLess.Wörter durchfluten die Zeit (BookLessSaga Teil 1)
das Wort wurde nichts, was geworden ist.«
Der Prolog des Evangeliums bestimmte die Aufgabe der Kinder des Bundes. Seine Berufung. Denn das Wort musste geschützt werden vor Missbrauch, Dummheit und Ignoranz. Es galt, den Funken der Göttlichkeit, der sich im geschriebenen Wort verbarg, zu schützen.
Es war das einzige Buch, das die vier Überlebenden von Montségur gerettet hatten. Das Buch und die beiden Kinder. Alle anderen Werke waren in der letzten Nacht, die Montségur dem Angriff des Papstes standgehalten hatte, im Inneren des Berges verschlossen worden und für immer verloren.
Nathan kniete sich auf die kleine Holzbank, die vor dem Pult mit dem Buch stand. Dann senkte er seinen Blick und begann zu beten. In dieser Haltung würde er verharren, bis sich alle Perfecti versammelt hatten, um seine Geisttaufe zu vollziehen.
Seine Begleiter verließen die Bibliothek und ließen ihn allein. Das Licht erlosch und er blieb in vollständiger Dunkelheit zurück. Nathan versuchte, sich in sein Innerstes zurückzuziehen. Jahrelang hatte er dies üben müssen. Bereits mit sechs Jahren hatte sein Großvater ihm befohlen, stundenlang in Dunkelheit und Kälte zu knien. Dafür hatte er Harold eine winzige Kammer einrichten lassen, in die kein einziger Lichtstrahl und keine Wärme drangen.
Er spürte weder Hunger noch Durst. Er spürte weder seine schmerzenden Knie noch seinen stechenden Rücken. Das Einzige, das seine Konzentration störte, war Lucy, die sich ungewollt in seinen Kopf stahl und sich weigerte zu verschwinden. Lucy, wie sie ihm ihr brennendes Mal zeigte. Lucy, wie er ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Lucy, die vor Verzweiflung über ein verlorenes Buch weinte und Trost in seinen Armen suchte.
Nathan unterdrückte ein Stöhnen. Er durfte nicht daran denken. Diese stumme Vorbereitung diente einzig dem Ritual. Er würde der Versuchung nicht nachgeben. War sie seine Prüfung? Vielleicht war Lucy nicht so unwissend, wie sie tat? Vielleicht wusste sie mehr, als sie preisgab. Konnte das sein? Auch sie war ein Kind des Bundes. Irregeleitet, wenn man so wollte. Er musste ihr von ihrer Bestimmung erzählen. Ihr ihren Weg aufzeigen.
Nathan versuchte die Gedanken an Lucy abzuschütteln und den Hass in seinem Herzen heraufzubeschwören, der ihm gelehrt worden war. Der Hass auf das Böse in der Welt und der Hass auf die, die das Wort verachteten.
Jahrelang hatte es gut funktioniert.
Ausgerechnet jetzt wollte es ihm nicht gelingen. Sofias Worte hallten in seinem Kopf. »Es ist nicht recht. Es ist nicht recht. Es ist nicht recht.« Mit jedem Mal wurden sie lauter. Musste er diese Folter in seinem Kopf überstehen, um zum Perfectus zu werden?
Er würde sich nicht ablenken lassen. War er erst einmal vollwertiges Mitglied des Bundes, warteten andere Entbehrungen auf ihn. Tierische Nahrung würde ihm verboten sein. Er würde Tag und Nacht darauf verwenden müssen, seinen Geist rein zu halten und sein Wissen zu erweitern. Keine Lüge durfte seine Lippen zukünftig verlassen, da seine Taufe dann hinfällig wäre. Das bedeutete, dass er sich Lucy offenbaren musste. Würde sie ihn verstehen? Wieder wanderten seine Gedanken zu ihr und die Vorstellung, dass sie sich von ihm abkehren könnte, fuhr wie ein Schwert durch seinen Körper. Er musste sie überzeugen. Er würde Lucy der falschen Seite entreißen. Würde sie sich von ihm retten lassen? Würde sie ihre Fähigkeit in den Dienst des Bundes stellen? Würde er derjenige sein, der beide Linien wieder vereinigte? Wie viel Wissen und Weisheit würde er gemeinsam mit Lucy retten können? Die Idee manifestierte sich immer deutlicher in seinem Kopf. Sobald er zurück in London war, würde er mit ihr sprechen. Er würde es nicht seinem Großvater überlassen. Das musste er allein tun und je mehr Nathan darüber nachdachte, umso sicherer war er, dass es ihm gelingen würde, Lucy von der Richtigkeit seines Tuns zu überzeugen.
Es musste spät in der Nacht sein, als sich die Tür in seinem Rücken öffnete. Ohne sich umzudrehen, wusste Nathan, dass sein Großvater und die anderen Perfecti den Raum betreten hatten. Niemand sagte ein Wort.
Einer der Männer berührte ihn am Arm und bedeutete ihm, sich aufzurichten. Nathan tat wie ihm geheißen und stellte sich in die Mitte des Kreises, der sich um ihn schloss. Sein Großvater nahm als Ältester der Gemeinde das Johannesevangelium vom Pult und kam zu ihm. Nathan kniete nieder. Sein Großvater legte
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