Sündenkreis: Thriller (German Edition)
Prolog
Mit einem zufriedenen Lächeln betrachtete der Mann die großformatige Reproduktion von Hieronymus Bosch, deren Original sich im Prado in Madrid befand. Nach all diesen Jahren war er noch immer hingerissen von der Botschaft, die der Künstler des ausgehenden Mittelalters so dramatisch dargestellt hatte.
Sein Blick irrte zur Seite und fiel auf die weiß gekleidete Frau am Boden. Sie lag auf dem Rücken, die Beine noch immer angewinkelt. Auf der Abdeckfolie unter ihr hatten sich kleine Wasserpfützen gebildet, die er nachher würde aufwischen müssen. Wie ferngesteuert versetzte sein linker Fuß dem Körper einen Stoß, aber die Frau rührte sich nicht. Ihre weit aufgerissenen Augen starrten an die Decke, als befände sich dort etwas außerordentlich Faszinierendes.
Der Mann wandte sich wieder seinem Bild zu. In der Mitte der kreisförmigen Darstellung prangte umgeben von einem breiten Strahlenkranz das »Auge Gottes«. In dessen Pupille sah man den auferstandenen Jesus Christus mit Wundmalen in einem Sarkophag stehen. Leise murmelte der Mann die vier lateinischen Wörter, die darunter standen, vor sich hin: » Cave cave Deus videt «. Der Maler mahnte die Menschen, sich vorzusehen. Deus videt – Gott sieht. Der Mann seufzte. Im Bildausschnitt rechts unten hatte Bosch eine Frau gemalt, die dem Betrachter den Rücken zuwandte. Sie schien sich nicht für ihre Umgebung zu interessieren, sondern richtete den Blick auf einen zweiflügeligen Schrank. Davor hielt ein fuchsköpfiger Teufel mit einer Haube, die ihre nachäffte, einen Spiegel. Die halb offene Schmucktruhe links von ihr, die prunkvollen Gefäße auf dem Schrank, der Apfel auf dem Fensterbrett, gaben dem Betrachter weitere Hinweise auf ihren Lebenswandel.
Mit einem Nicken rollte der Mann das Bild wieder zusammen und schob es in die Hülse. Es war Zeit, sich um die Frau zu kümmern.
Die Wasserpfützen unter dem Körper hatten sich ausgebreitet. Er berührte ihre Schulter und strich dann mit der Handfläche über den Arm. Auch ihr Kleid war durchfeuchtet. Die bleiche Schönheit war eine ganze Woche bei ihm gewesen und hatte dann noch eine weitere Woche im »Dornröschenschlaf« verbracht. Jetzt würde sie ihn verlassen und ihre letzte Aufgabe erfüllen.
Sein Blick wanderte über den Halsausschnitt zu ihrem Gesicht. Rund um die Augen befanden sich kleine blaurote Punkte. Von Weitem sah es aus, als trüge sie eine dunkle Halbmaske. Letzte Woche hatte er sie in einem unbedachten Moment sinnlosen Zorns kräftig gewürgt. Dabei mussten diese Petechien entstanden sein. Auch die Zunge sah nicht mehr schön aus, aber sie ließ sich einfach nicht wieder in die Mundhöhle hineindrücken. Im Nachhinein hatte ihn seine Unbeherrschtheit heftig geärgert, aber die Male hatten sich nicht mehr beseitigen lassen.
Er berührte ihren kalten Fuß und drückte das Bein gerade. Die Starre hatte sich fast gelöst. Um sie zwischenlagern zu können, hatte er ihre Beine anwinkeln müssen. Wenn die Frau der Öffentlichkeit präsentiert wurde, musste sie ausgestreckt liegen. Sie sperrte sich noch ein wenig, aber dann hatte er es geschafft. Gemächlich saugte er die Wasserlachen mithilfe von Frotteetüchern, die er anschließend in einen blauen Plastikmüllsack warf, auf und begann dann, sie in die feste Folie einzuwickeln.
Aufschneiden würde er sie erst an Ort und Stelle. Er stellte es sich faszinierend vor, wie ihr Blut – das hoffentlich noch flüssig war – in Zeitlupe herabtropfte, während sie sich den Leuten präsentierte. Der Cutter schnitt durch das Packband. Jetzt kam der schwierige Teil. Er musste sie an Ort und Stelle bringen, ohne dass es jemandem auffiel. Im Keller wartete schon die nächste.
1
»Tu Buße!«
Die Stimme klang barsch und mitleidslos. Nina Bernstein fror. Ihre Augen schmerzten hinter dem kratzigen Stoff, der fest um ihr Gesicht gewickelt war und nur Mund und Nase freiließ. Sie schniefte leise. Die eingeatmete Luft roch modrig. War der Stoff verschimmelt? Oder kam der Geruch aus dem Raum, in dem sie sich befand?
»Du hörst mir gar nicht zu?« Ein Stoß traf Ninas Schläfe, und sie spürte, wie ihr Hinterkopf an etwas Hartes prallte. »Du sollst büßen !« Der Ton hatte sich verschärft, Worte hallten wider, die Gedanken sprangen wie Flipperkugeln durch Ninas Kopf. Was erwartete die Stimme von ihr, welche Antworten wären die richtigen? Und wofür sollte sie büßen?
»Denk nach!« Noch ein Stoß, fester jetzt. »Ich gebe dir ein bisschen
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