BookLess.Wörter durchfluten die Zeit (BookLessSaga Teil 1)
Lucy lief in ihr Büro und schaltete das Licht an. Dann ging sie zum Aufzug und entnahm ihm die beiden Bücher, die sie mit Nathan gestern hineingelegt hatte.
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie den Karton mit dem Buch von Lewis Caroll öffnete. Vorsichtig packte sie es aus und begann darin zu blättern. Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich – das Buch war leer. Nathan hatte gründliche Arbeit geleistet. Kein einziger Buchstabe war mehr zu erkennen. Sie schlug das Buch wieder zu und nahm es in den Arm. Ganz fest drückte sie es an sich und schloss die Augen.
Die Gefühle des Buches, das an ihrer Brust lag, stürmten ungefiltert auf sie ein. Da war Schmerz zu spüren, Trauer und Angst. Auch Wut spürte Lucy. Wut, dass das Buch sich nicht hatte wehren können, dass man ihm seine Worte gestohlen hatte.
Das konnte nicht richtig sein, befand Lucy und wollte das Buch trösten. Aber wie sollte sie das tun? Die Worte waren verloren. Fest verschlossen, an einem geheimen Ort. Einem Ort, an dem sich nur ein paar alte Männer an den Worten erfreuen konnten.
Welchen Sinn hatte es, ein Buch wie »Alice im Wunderland« zu stehlen? Die katholische Kirche konnte kaum ein Interesse an einem Kinderbuch haben. Nathans Begründung für sein Tun kam Lucy im Rückblick kindisch und albern vor. Was waren die wirklichen Beweggründe des Bundes?
Lucy legte das Buch zur Seite und nahm das Medaillon in ihre Hand. Lange betrachtete sie es.
Dann rannte sie tief in das Innere des Archivs hinein. Als sie sicher war, dass kein ungebetener Besucher sie finden konnte, lehnte sie sich gegen eine steinerne Wand und zog das Medaillon hervor. Wenn sie doch bloß mit Philippa reden könnte. Wenn Philippa ihr erklären könnte, weshalb sie den Bund verlassen hatte. Was war mit ihr geschehen? Wohin war sie gegangen?
Lucy klappte das Schmuckstück auf und zog den Ärmel ihres Pullovers zurück. In Sekundenschnelle hatte das Licht sich vereinigt und Lucy erkannte Philippa. Sie lag in einem Bett und sie sah krank aus. Sie sah aus, als ob sie bald sterben würde. Auf der Kante des Bettes saß ein Mädchen. Es war vielleicht acht oder neun Jahre alt. Philippa hielt seine Hand, und während die todkranke Frau lächelte, strömten dem Kind die Tränen über die Wangen. Der Schmerz, der Lucy bei dem Anblick durchfuhr, ließ sie zusammenzucken. Ihre Hand mit dem Medaillon zitterte. Am liebsten hätte Lucy es zugeklappt, um dem Schmerz zu entgehen. Da begann Philippa zu sprechen. »Du musst tapfer sein, mein Kind. Weine nicht. Du bist hier in guten Händen. Ich gehe heim. Heim zu Gott und zu deinem Vater. Eines Tages wirst du mir folgen und wir werden wieder vereint sein und, so Gott will, werden auch deine Geschwister an unserer Seite sein.«
»Du darfst mich nicht verlassen, Mutter. Ich bin noch nicht so weit. Ich werde meine Aufgabe nicht erfüllen können. Nicht ohne dich.«
»Du wirst es schaffen«, bestärkte Philippa das Kind, das ihre Tochter sein musste. Ein Hustenanfall unterbrach ihre Worte. Das Mädchen nahm ein Tuch zur Hand und wischte Blut von Philippas Mund. Dann reichte sie ihr einen Becher. »Aber was, wenn ich versage? Was ist, wenn die Männer des Bundes mich erkennen, mich finden?«
»Sie wissen nicht, dass du überlebt hast, Gwen. Sie halten dich und mich seit Jahren für tot. Du musst dich vor ihnen verbergen, aber du musst sie auch daran hindern, noch mehr Wissen zu stehlen. Du musst all deine Kraft und deine Macht darauf konzentrieren. Es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis sie wissen, dass wir sie damals getäuscht haben. Hüte dich vor den Männern. Sie sind neidisch auf die Fähigkeit der Frauen des Bundes, denn nur wir sind in der Lage, die Bücher wieder freizulassen und den Menschen die Worte zurückzugeben. Deshalb haben sie uns in all den Jahren verboten, die geretteten Bücher zu sehen und haben uns den Zugang zu ihnen verwehrt. Sie trauen uns nicht.«
Wieder hustete Philippa. »Sie werden versuchen, dich zu finden. Sie werden versuchen, dich zurückzuholen und wenn ihnen das nicht gelingt, werden sie versuchen, dich zu töten. Also verbirg dich vor ihnen. Du hast mächtige Verbündete, die dir helfen werden. Doch handle klug, mein Kind. Überstürze nichts.«
Die Hustenanfälle wurden stärker. Ein breiter Faden roten Blutes lief aus Philippas Mund.
»Du darfst nicht mehr sprechen, Mutter. Es strengt dich zu sehr an. Du musst dich ausruhen. Ich werde nachher noch einmal zu dir kommen«, sagte das
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