Bordeuax
medizinischer Sicht. Nach langem Hin und Her und eingehender
Betrachtung von Etiketten entschied ich mich schließlich für einen 82er Château
Palmer.
Ich sah wieder auf die Uhr, fast
drei. Ich musste über sechzig Minuten hier unten verbracht haben, was für eine
Vergeudung. In ein paar Stunden würde Colin hier sein, da blieb mir kaum Zeit,
meinen Mittagswein auszutrinken und anzufangen, mir Gedanken zu machen, was
ich vor dem Abendessen zu mir nehmen sollte.
Ich ging nach oben und öffnet den
Palmer, dekantierte ihn und goss mir ein Glas ein. Er war noch etwas zu kühl,
aber beim zweiten Schluck hatte er Zimmertemperatur erreicht und schmeckte
köstlich.
Francis sagte früher gerne zu mir:
»Der erste Schluck ist immer der beste«, und manchmal trank er nur ein halbes
Glas aus einer Flasche und schüttete den Rest weg. Aus so einem kurzen
Rendezvous gewann er jeweils sein ganzes Wissen über einen bestimmten Wein. Ich
hatte andere Bedürfnisse. Ich wollte den Wein inhalieren, ihn probieren, ihn
trinken; wenn möglich, wäre ich darin geschwommen. Francis machte es die
größte Freude, einfach nur dazusitzen und ihn sich anzugucken. Sein Weinkeller
und sein Weingeschäft haben sich verändert. Der Laden ist natürlich
geschlossen. An der Kasse ertönt nicht mehr die alte Klingel, und es treffen
sich dort auch keine Kunden mehr, in der Hoffnung auf eine Kostprobe oder um
den neuesten Klatsch zu erfahren, über die letzte Jagd, die letzte Angelpartie
oder ein Pferderennen; die Kerzen, die dort immer Licht spendeten, sind längst
niedergebrannt und erloschen. Hier traf ich Ed Simmonds, wie man ihn damals
noch nannte, zum ersten Mal. Zeitweilig war er mein Freund, heute ist er der
Marquis von Hartlepool, und wir reden nicht mehr miteinander, aber nicht, weil
er das Familienerbe angetreten hat.
Damals, während meiner Lehrzeit in
Sachen Wein, saß ich neben Francis, der seinen Blick schweifen ließ über die
Tausend und Abertausend Flaschen in den Regalen, die die Wände säumten, und
die Stapel von Weinkisten aus Holz, die in dem riesigen Raum Inseln und Türme
bildeten. Gelegentlich ließ er eine Bemerkung über irgendein Château mit einem
Namen wie aus der Artussage fallen, und er sprach über die großen Jahrgänge aus
der Zeit seiner Eltern und Großeltern. Das Kerzenlicht schimmerte auf den
Flaschen, und ab und zu stand er auf, zog eine Flasche aus einem Regal und
sagte: »Guck mal. Das Originaletikett für diese Marke hat Cocteau entworfen«,
oder: »Dieses Château existiert nicht mehr. Das haben die Deutschen im Zweiten
Weltkrieg in die Luft gesprengt. Das ist wahrscheinlich eine der letzten
Flaschen von diesem Wein, die es noch gibt, und wenn du oder ich oder irgendein
Kunde, der nichts davon versteht, sie trinkt, ist seine ganze Geschichte für
immer verpufft, als hätte es sie nie gegeben.«
Sein Wissen war mehr als nur
enzyklopädisch. Es war ein Wissen, wie man es als Heiliger oder Eremit
anhäuft, der sein ganzes Leben damit verbringt, das Evangelium zu studieren.
Francis wusste alles. Er kannte jeden Weinbauer, jeden Spediteur, jeden Jahrgang,
jedes Terroir . Selbst jetzt noch, nach den vielen Abenden, an denen
ich ihm stundenlang zugehört hatte, nach der hingebungsvollen Lektüre praktisch
aller Standardwerke über Wein, sogar nach dem Besuch eines Weinseminars ist
mein Wissen nicht mit dem von Francis zu vergleichen. Wenn seine Kenntnis auf
dem Gebiet des Weins wie ein großes Panorama hoher schneebedeckter Berge war,
war mein Wissen im Vergleich dazu ein Maulwurfshügel am Fuße der Ausläufer
dieses Gebirges. Als Francis starb, hatte die Welt keine Ahnung, oder es war
ihr egal, welch enormes Wissen mit ihm zugrunde ging. Sein Wein lebt weiter:
Die Flaschen liegen in ihren Regalen, und die Jahrhundert Jahrgänge altern
langsamer als Menschen. Trotzdem ist mir bewusst, dass einige von ihnen dabei
sind zu sterben, die endlose Ebene ihrer reifen Jahre zu verlassen und
allmählich zu einem essigsauren Friedhof zu verkommen. Manche Flaschen sind
bereits tot, ihr Inneres hat sich von einer satten dunkelroten in eine dünne
braune, saure Flüssigkeit verwandelt. Als Francis selbst im Sterben lag, hatte
er mich gewarnt, dass der Wein eines Tages auch sterben würde.
Ich kann nicht den ganzen Wein
austrinken, und wenn ich mich noch so sehr anstrenge. Auch nur eine Flasche zu
verkaufen, wäre ein Treuebruch. Ich könnte mich sowieso von keiner trennen. Solange
noch Leben in mir ist, trinke ich, was
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