Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bordeuax

Bordeuax

Titel: Bordeuax Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Torday
Vom Netzwerk:
Eine
Schwester kam herein, ein Klemmbord unterm Arm, und sah mich mit ernstem
Gesicht an.
    »Wie geht es uns?«, fragte sie.
    »Wie immer unverändert«, sagte ich.
Sie warf einen knappen Blick auf ihr Klemmbord. »Fühlen Sie sich so weit in der
Lage, einige Fragen zu beantworten, Mr Wilberforce?«
    »Ich werde es versuchen.«
    »Wir haben Ihren Blutdruck gemessen
und bei Ihrer Einlieferung eine Blutprobe entnommen. Ihr Cholesterin war
erhöht, und die Probe zeigt einen sehr hohen Alkoholwert in Ihrem Blut an.
Haben Sie in letzter Zeit getrunken?«
    »In Maßen.«
    Die Schwester sah wieder auf ihr
Klemmbord. »Das widerspricht dem Wert der Blutprobe. Wie viele Einheiten
Alkohol trinken Sie etwa pro Woche?«
    Ich wusste nicht, wie viel eine
Einheit Alkohol war, und fragte die Schwester.
    »Ein Glas Wein sind etwa anderthalb
Einheiten.«
    »Oh.« Ich war schon immer ganz gut
im Rechnen. Schon als Junge hatte mir das stumme Zählen im Kopf oder das
Berechnen von Primzahlen einen Riesenspaß gemacht. So war ich zu einem sehr
guten Software-Entwickler und Programmierer geworden. Ich rechnete es im Kopf
aus und sagte: »Ich trinke ungefähr 260 Einheiten pro Woche. Es sei denn, ich
gehe aus. Dann könnte es auch ein bisschen mehr werden. Aber ich gehe nicht
mehr oft aus.«
    Die Schwester legte das Klemmbord
auf mein Bett und sah mich ungläubig an. »Sie meinen bestimmt 26, oder?«
    »Wenn man davon ausgeht, dass ein
Glas durchschnittlich 125 Milliliter und eine Flasche 750 Milliliter fasst,
dann enthält eine Flasche fünf Gläser. Wenn jedes Glas mit 1,5 zählt, ergeben
sich pro Flasche 7,5 Einheiten. Und wenn ich jeden Tag fünf Flaschen trinke,
kommt man auf 260 Einheiten pro Woche. Entschuldigen Sie, wenn in meiner
Berechnung irgendwo ein Fehler ist. Mein Verstand ist noch nicht wieder ganz
auf der Höhe.«
    Ich sah, dass die Schwester im Kopf
nachrechnete, sie bewegte dazu die Lippen. Schließlich verkündete sie: »Sie
sind sehr krank, Mr Wilberforce. Ich glaube, damit hat sich jede weitere Frage
erübrigt.« Sie ließ mich allein.
    Ich überlegte, ob es nicht möglich
war, sich selbst zu entlassen. Ich konnte mir ein Taxi nach Hause bestellen;
einziger Knackpunkt war, dass ich nicht mehr wusste, wo zu Hause war. An einige
Details konnte ich mich noch erinnern, die Schlafzimmerdecke zum Beispiel. Ich
war mir ziemlich sicher, dass ich in London wohnte, jedenfalls nicht in
Bogota. Als ich mich in Bogota aufgehalten hatte, war ich in einem Hotel
abgestiegen, dessen Name mir aber momentan ebenfalls entfallen war. Wieder
betrat jemand das Zimmer; zuerst dachte ich, es wäre ein Arzt, weil er eine
große Tafel vor sich her trug, wie sie Augenärzte verwenden, um die Sehschärfe
zu messen. Ich sah nur die Hände, die die Tafel hielten, Gesicht und Körper
waren verdeckt. Noch mehr Tests also. Hoffentlich würde das nicht den ganzen
Nachmittag so weitergehen.
    »Können Sie die Buchstaben lesen?«,
fragte mein Besucher mit heiserer, flüsternder Stimme, und mit den Worten
strömte etwas Verschimmeltes aus, etwas Verdorbenes. Aber die Stimme kam mir
bekannt vor. Sie erinnerte mich an Francis.
    »Nett von dir, dass du mal
vorbeischaust. Woher wusstest du, dass ich hier bin?«
    Mein Besuch ging nicht weiter auf
meine Begrüßung ein, er wiederholte nur: »Können Sie die Buchstaben lesen?«
    Ich sah zur Tafel, und ich las:
     
    DNIDMFDDWF
     
    »Können Sie die Buchstaben lesen,
Wilberforce?«, flüsterte mein Gast. Die Finger an seinen Händen, mit denen er
die Tafel hielt, waren lang und knochig, die Fingernägel ungepflegt, fast
Krallen.
    »Ja«, erwiderte ich knapp. Mir
verschlug es den Atem. Wer immer die Person auch war, ihr Körpergeruch war
süßlich und verdorben.
    »Dann sagen Sie mir, was sie
bedeuten.«
    »Drei Nager in dunklem
Manchesterhemd fressen delikat das Wensleydale-Fragment«, sagte ich. Genau! Das
war es! Ich wusste doch, dass es eine Gedächtnisstütze war. Ich wusste, dass es
mir irgendwann einfallen würde. Aber wofür stand die Gedächtnisstütze?
    Es entstand eine Unruhe, die mich
ablenkte. Ich wandte mich von meinem Gast und seiner Sehtesttafel ab und sah,
dass noch jemand das Zimmer betreten hatte, diesmal tatsächlich ein Arzt. Als
ich mich wieder zur Tafel drehte, um herauszufinden, ob ich ihr nicht noch
weitere Hinweise entnehmen konnte, waren sie und der Besucher verschwunden, und
ebenso, Gott sei Dank, der Geruch nach Verdorbenem.
    Der Arzt trat an mein Bett und
fragte mich, wie es mir

Weitere Kostenlose Bücher