Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
Pause laufen zu lassen.
Doch welche Geheimnisse die Tarahumara auch hüten mögen, sie haben sie gut gehütet. Bis zum heutigen Tag leben sie in Felswänden, die höher liegen als ein Falkennest, und in einem Land, das nur wenige Menschen je zu sehen bekamen. Die Barrancas sind eine vergessene Welt in der allereinsamsten Wildnis Nordamerikas, eine Art Festlands-Bermudadreieck, in dem schon viele Ausgestoßene und Desperados, die sich dorthinein verlaufen haben, verschwunden sind. Viel Böses kann einem dort widerfahren, und vermutlich kommt es dann auch so; wer menschenfressenden Jaguaren, Giftschlangen und der Gluthitze entkommt, kann immer noch dem »Canyonfieber« zum Opfer fallen, einem potenziell tödlichen psychischen Zusammenbruch, der von der öden Unheimlichkeit der Barrancas ausgelöst wird. Je tiefer man in die Barrancas vordringt, desto stärker kann das Gefühl werden, man bewege sich in einer Krypta, die sich ringsherum schließt. Die Felswände rücken näher, die Schatten werden länger, Phantomechos flüstern; jeder Ausgang scheint am nackten Felsen zu enden. Verirrte Kundschafter kann ein so heftiger Wahnsinn, eine so starke Verzweiflung überkommen, dass sie sich selbst die Kehle durchschneiden oder in felsige Abgründe stürzen. Es ist keine große Überraschung, dass nur wenige Fremde die Heimat der Tarahumara jemals zu sehen bekamen – von den Tarahumara selbst ganz zu schweigen.
Das Weiße Pferd jedoch hat es irgendwie geschafft, in die Tiefen der Barrancas vorzudringen. Und dort, so heißt es, wurde dieser Mann von den Tarahumara als Freund und verwandte Seele angenommen, als Geist unter Geistern. Mit Sicherheit hat er sich zwei Fertigkeiten der Tarahumara angeeignet – Unsichtbarkeit und außergewöhnliche Ausdauer -, denn er wurde zwar schon an vielen Orten in den Canyons gesehen, aber niemand schien zu wissen, wo er lebte oder als nächstes auftauchen würde. Wenn irgendjemand die uralten Geheimnisse der Tarahumara erklären könne, so erzählte man mir, dann sei es dieser einsame Wanderer der Sierras.
Mit der Zeit war ich so besessen von dem Gedanken, Caballo Blanco aufzuspüren, dass ich mir, als ich auf dem Hotelsofa vor mich hin döste, sogar den Klang seiner Stimme vorstellen konnte. »Vielleicht wie Yogi Bär, der bei Taco Bell Burritos bestellt«, sinnierte ich. Ein solcher Kerl, ein Wanderer, der überall hinkommt, aber sich nirgendwo einfügt, muss in seiner eigenen Vorstellungswelt leben und wird den Klang der eigenen Stimme nur selten wahrnehmen. Er würde seltsame Witze machen und sich dabei vor Lachen ausschütten. Er hatte eine dröhnende Lache und sprach ein grauenhaftes Spanisch. Er würde laut sein, ein Plappermaul und … und …
Augenblick mal. Ich hörte ihn tatsächlich . Ich öffnete die Augen und sah eine ausgezehrte Gestalt, die einen zerschlissenen Strohhut trug und mit der Empfangsdame scherzte. Der Reisestaub auf dem hageren Gesicht glich einer verwaschenen Kriegsbemalung, und der unter dem Hut hervorragende Haarschopf schien mit einem Jagdmesser zurechtgestutzt worden zu sein. Der Mann sah aus wie ein Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel, auch die Art, wie er nach einer Unterhaltung mit der gelangweilten Empfangsdame gierte, passte ins Bild.
»Caballo?«, krächzte ich.
Die Gestalt wandte sich um, lächelte dabei, und ich fühlte mich wie ein Idiot. Der Mann sah nicht argwöhnisch aus, er wirkte nur irritiert, so wie jeder andere Tourist auch, der es mit einem konfusen Typen auf einem Sofa zu tun bekommt, der ihn unvermittelt mit »Pferd!« anredet.
Das war nicht Caballo. Es gab gar keinen Caballo. Die ganze Sache war ein Schwindel, und ich war darauf reingefallen.
Dann sprach die Gestalt. »Du kennst mich?«
»Mann!« Ich explodierte und schnellte hoch. »Was bin ich froh, dich zu sehen!«
Das Lächeln verschwand. Die Augen des Ausgezehrten wanderten in Richtung Tür und machten deutlich, dass er selbst es in wenigen Augenblicken genauso halten würde.
2
Es begann alles mit einer einfachen Frage, die mir niemand beantworten konnte.
Es war ein Fünf-Wort-Rätsel, das mich zu einem Foto eines sehr schnellen Mannes in einem sehr kurzen Rock führte, und von da an wurde alles nur noch seltsamer. Wenig später hatte ich es mit Mord zu tun, mit Drogenguerillas und einem einarmigen Mann, der einen Frischkäsebecher auf dem Kopf trug. Ich stieß auf eine wunderschöne blonde Försterin, die aus ihren Kleidern schlüpfte und ihr Heil als
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