Born to Run: Ein vergessenes Volk und das Geheimnis der besten und glücklichsten Läufer der Welt (German Edition)
von Esquire bestand ein großer Teil meiner Arbeit aus Experimenten mit semiextremen Sportarten. Stromschnellen des Schwierigkeitsgrades 4 hatte ich mit einem Boogieboard befahren, riesige Sanddünen mit einem Snowboard, und die Badlands von North Dakota hatte ich mit dem Mountainbike durchquert. Außerdem hatte ich für die Associated Press aus drei Kriegsgebieten berichtet und Monate in einer der gesetzlosesten Regionen Afrikas zugebracht, all dies ohne Kratzer oder Schrammen. Aber dann, bei einem Lauf über wenige Kilometer, wälze ich mich auf dem Boden, als wäre ich aus einem vorbeifahrenden Auto angeschossen worden.
In jeder anderen Sportart würde mich eine derartige Verletzungsanfälligkeit als ungeeignet erscheinen lassen. Beim Laufen macht es mich zum Normalfall. Die wahren Mutanten sind die Läufer, die sich nicht verletzen. Bis zu acht von zehn Läufern ziehen sich jedes Jahr Verletzungen zu. Es spielt keine Rolle, ob man schwer oder leicht, schnell oder langsam, ein Marathonmeister oder ein Wochenend-Hobbyläufer ist, bei allen Läufertypen besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass sie sich die Knie, Schienbeine, Kniesehnen, Hüftgelenke oder Fersen verletzen. Wer am nächsten Thanksgiving an einem Turkey Trot teilnimmt, der merke sich vor dem Start die Läufer zu seiner Rechten und Linken: Statistisch gesehen wird nur einer von euch auch an Weihnachten zum Jingle Bell Jog antreten.
Bis heute konnte noch keine Erfindung der Sportartikelindustrie die Körperschäden eindämmen. Heute kann man Laufschuhe kaufen, in deren Sohlen Stahlfedern eingearbeitet sind, ein bestimmtes Fabrikat regelt die Dämpfung sogar per Mikrochip, aber die Verletzungsquote hat in 30 Jahren kein bisschen abgenommen. Wenn überhaupt, hat sie zugenommen. Bei den Achillessehnenrissen war eine Steigerung um zehn Prozent zu verzeichnen. Laufen schien so etwas wie die Fitnessversion von Alkohol am Steuer zu sein: Man konnte eine Zeit lang ungeschoren davonkommen, dabei vielleicht sogar ein bisschen Spaß haben, aber gleich hinter der nächsten Straßenecke lauerte die Katastrophe.
»Große Überraschung«, höhnt die sportmedizinische Fachliteratur in diesem Zusammenhang. Dem ist jedoch nicht ganz so. Eher trifft dies zu: »Athleten, in deren Sportart viel gelaufen wird, setzen ihre Beine enormen Belastungen aus.« So äußerte sich das Sports Injury Bulletin zum Thema. »Mit jedem Schritt wird eines der Beine einer Kraft ausgesetzt, die dem doppelten Körpergewicht entspricht. Wiederholte Hammerschläge werden auch einen vermeintlich unerschütterlichen Felsen schließlich in Staub verwandeln, und genauso kann die mit dem Laufen verbundene Belastung letztlich auch Knochen, Knorpel, Muskeln, Sehnen und Bänder brechen oder reißen lassen.« Ein Bericht der amerikanischen Orthopädenvereinigung kam zu dem Ergebnis, der Langstreckenlauf sei »eine unerhörte Bedrohung für die Unversehrtheit des Kniegelenks«.
Und diese Gefahr wirkt nicht auf einen »unerschütterlichen Felsen«, sondern auf einen der empfindlichsten Punkte des ganzen Körpers ein. Wussten Sie schon, welche Nerven für Ihre Füße zuständig sind? Es sind dieselben, zu deren Netzwerk auch die Genitalien gehören. Die Füße sind so etwas wie ein Ködereimer voller Neuronen, die auf der Suche nach Sinneseindrücken durcheinanderwuseln. Man reize diese Nerven nur ein bisschen, und der Impuls wird durch das gesamte Nervensystem schießen. Deshalb kann ein Kitzeln der Füße die Schaltzentrale überlasten und den ganzen Körper in Krämpfe versetzen.
Es ist keine Überraschung, dass südamerikanische Diktatoren zu Fußfetischisten wurden, wenn es hartnäckige Gegner zu brechen galt. Die Bastonade, eine Foltermethode, bei der das gefesselte Opfer auf die Fußsohlen geschlagen wird, ist eine Erfindung der spanischen Inquisition, die von den übelsten Sadisten dieser Welt begierig übernommen wurde. Die Roten Khmer und Saddam Husseins Sohn Udai waren große Anhänger der Bastonade, weil sie die anatomischen Zusammenhänge kannten. Nur das Gesicht und die Hände haben eine ähnlich starke und schnelle Reizleitung zum Gehirn wie die Füße. Die Zehen sind so fein innerviert wie die Lippen und die Fingerspitzen, deshalb übermitteln sie auch die Empfindung des sanftesten Streichelns oder des winzigsten Sandkorns.
»Also kann ich gar nichts tun?«, fragte ich Dr. Torg.
Er zuckte mit den Schultern. »Sie können weiterlaufen, aber Sie werden wiederkommen und noch mehr davon
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