Bostjans Flug - Roman
deportiert und dort umgebracht. Klar wird das im Lesen freilich nicht durch den üblichen, gar zu üblichen Berichtston, eher die -tonlosigkeit, die tonlose Geschichtsschreibung; vielmehr durch die Verwandlung des Geschehenen in Rhythmus und Bild, und solcherart Verwandlung kommt beileibe aus keinem gleichwie vorgefaßten, geplanten sogenannten Stilwillen. Die Verwandlung ist bei Florjan Lipuš das Wesen der Sprache, die natürliche, des Aufruhrs. Sein Erzählen ist nie Nacherzählen, es ist Erzählen als Verwandeln. Die Verwandlung des himmelschreienden, unendlichen, durch nichts zu rächenden oder gar gutzumachenden Skandals des Mutter- wie Völkermords in rhythmische Bilder ist die dem Schmerz, dem Zorn und der lebenslangen Wut wahrhaftige Ent-Sprechung. Das Verwandelte, es erzählt: Das Ersticken der Mutter, ihre Todesschreie oder -seufzer, ihr Verbranntwerden. Das ist in Boštjans Flug dem Autor, dem Sohn, dem Autor als Sohn, und nicht nur dieser Frau, von Kind an in die Knochen gefahren, und das Buch ist endlich daraus hervorgebrochen, mitsamt Hall (der Mutter) und Widerhall (im Sohn).
Zum ersten Mal ist mir durch Boštjans Flug eine Ahnung, eine »leise«, zuteil geworden, wie es kam, daß Florjan Lipuš beinahe ein Priester geworden wäre, nicht außengelenkt, sondern innengeleitet. Eine Religion tritt in sämtlichen seiner früheren Bücher nicht recht auf, oder doch, als Verkleidung, als Travestie, in Gestalt oder Ungestalt eines blindwütigen, machtbesessenen und in Alt und vor allem Jung fast nichts als Übel anrichtenden Klerus. Und diesen Verkleidungen galt, bis zu Boštjans, Sebastians, Geschichte Buch für Buch Lipuš' Spott, mehr noch Bitternis und Enttäuschung, auch da schon in des Autors unvergleichlichem rhythmischen Bilderzug, da allerdings noch gar eng gekoppelt, so daß die Bilder im Stakkato und gewollten Mißton gegeneinanderschlagen oder -rumpeln. Zwar finden sich noch in Boštjans Flug einzelne solcher Passagen, in denen Florjan Lipuš der, wie heißt das, Amtskirche an die Kandare, oder wie das heißt, fährt. Aber diese Passagen sind nicht bloß kurz, sie sind auch ungewohnt milde. Der endlich gefundene klare Ton des Schmerzes über den Märtyrertod der Mutter ebenso wie die endlich eingestandene und mit unerhörter Begeisterung erzählte Liebe des verwaisten Halbwüchsigen, dann jungen Mannes zu der ihm »entsprechenden« jungen Frau, diese zwei geben den Blick frei hinter all die Verkleidungen und verrenkten Altarfiguren auf eine Religion, eine Religion, die nicht deklamiert wird, vielmehr wiederum vor erzählt, in bloßen Andeutungen, beiläufig, wie man eben anklingen läßt, was für einen der Fall oder das Herz der Dinge ist. Das ist eine Religion, von der ich noch nie gelesen habe, jedenfalls nicht so: Alles, außer Macht, Amt und Obrigkeit hat in ihr seinen Platz, die Sterbenden und die Toten – siehe die Großmutter in Boštjans Flug – sind im wehen des Windens, werden milchi
ge Stellen in schwarzen Kammerwinkeln, und das Göttliche durchsäuert den Erd- wie Luftleib, auch wenn es sonst keine Macht hat; auch keine haben soll.
Und zuerst und zuletzt die Geschichte der Liebe zweier Junger, die ein Buch lang brauchen, bis sie endlich zueinanderfinden: Einen beseelteren, oder beherzteren, oder leibhaftigeren Kuß wie den der zwei im Graben der Karawanken in Kärnten, wo hat es den sonst je gegeben? Man, nein, ich, hätte dergleichen liebend gern seinerzeit erlebt – und habe es ja erlebt, indem ich davon lese, in rhythmischen Bildern, wiederum unvergleichlichen. Wer war es doch, der die Erzählung Dshamilija des kirgisischen Autors Tschingis Aitmatov »die schönste Liebesgeschichte der Welt« genannt hat? Wer auch, und wie auch: In meinen Augen und Ohren erzählt Boštjans Flug von der Liebe auf eine Weise, die alle Liebesgeschichten der Welt überflügelt, auch die aus dem Böhmerwald, oder sonstwo, von Adalbert Stifter, und auch die kirgisischen.
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