Bostjans Flug - Roman
jemand herausreißt aus dem Gelände, das Netzwerk der Wege und Stege, die sich mit der Straße verbinden, nicht herausreißt. Auf der letzten Kehre, schon in Sichtweite des Hauses, hält er inne und blickt sich um, ob die Mühle noch da ist, ob die Straße noch vorbeiführt, ob sich dort nicht jemand verdächtig herumtreibt. Erst nach einiger Zeit, als er sieht, daß alles noch immer da ist, setzt er den Heimweg fort.
Nachwort
Peter Handke
Aufruhr und Liebe
Auf die Sprünge zu diesen paar Bemerkungen über den österreichischen, den Kärntner Schriftsteller slowenischer Sprache Florjan Lipuš bringt mich, seltsam oder auch nicht, ein Ausspruch, den Lipuš über mich, den P. H., gemacht hat. Der Satz handelt von der Heranwachsendenzeit, die wir beide, er und ich, während der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts, als Schüler in dem Bischöflichen »Knabenseminar« zugebracht haben. Wir sollten allesamt später einmal katholische Priester werden. Nur wenige sind es geworden; ich hier schon gar nicht; Florjan Lipuš um ein Haar; in seiner Sprache, übersetzt, würde er vielleicht sagen, der Kelch sei am Zögling Tjaž (Held seines nachmaligen ersten Romans) vorübergegangen. Lipuš ist um gut fünf Jahre älter als ich und hat mich, in dem Internat damals um einige Klassen unter der seinen, von weitem oder oben dann und wann wahrgenommen: »Immer mit einem Buch in der Hand, und still.« Das erste mag für das eine oder andere Mal zutreffen; das zweite, wenn, dann allein nach außen hin. In mir drinnen war es in den Internatsjahren niemals still (und ist es heute, wenn überhaupt, gar zu selten). Aber warum ich das jetzt erwähne: Als mir Lipuš' Spruch zu Ohren kam, viel später, ging mir auf, daß auch mir seinerzeit, wenn ich die Augen überhaupt zu heben imstande war zu einem in den oberen Klassen, Florjan Lipuš in den Blick geraten war, und zwar als einer, der nicht nur still, sondern von einer Stille darüber hinaus leibhaftig umgeben, von ihr buchstäblich abgeschirmt wirkte. Dann, viel viel
später, beim Lesen seiner Bücher, alle sieben, acht, oder neun, mußte oder durfte ich erkennen, daß jene Zone von Stille einem dann lebenslangen Aufruhr vorausgegangen war, oder nein, daß hinter jenem scheinbaren Bezirk der Stille schon seinerzeit, in dem Heranwachsenden, dem jungen Mann, der spät aus seinem Geburtsgraben in den Karawanken des südlichen Kärnten zu einer sogenannt höheren Schule geschubst worden war, der Aufruhr herrschte, der blanke. Solch Aufruhr hat sich, von Lipuš' erstem Roman bis zu seinem erklärtermaßen letzten, erklärtermaßen ein Lebenswerk, das diesen Namen einmal verdient, abschließenden, der Geschichte von Boštjans Flug fortgesetzt, und fortgepflanzt, und weitergezündet und firmamentwärts geflammt. Boštjans Flug ist, wie kein anderes Buch der letzten Jahrzehnte in unseren europäischen Breiten und Längen und vor allem Engen, das Buch des großen beständigen Aufruhrs, aber auch – warum »aber«? –, und auch, erstmals bei Florjan Lipuš, ein Buch der Liebe, einer ersten, der ersten, und so erzählt, daß man es liest als das erste Buch der Liebe seit (fast) unvordenklichen Zeiten. Aufruhr und Liebe. Und es soll hier kein Paradox sein – obwohl es vielleicht so aussieht –, daß mir beim Lesen vorkam, allein Adalbert Stifter habe, hundertfünfzig Jahre zuvor, solch innige wie monumentale Liebesgeschichten aufgeschrieben. Der aufrührerische, in einer Minderheitssprache sich ausdrückende slowenische Autor zusammengesehen mit dem am entschiedensten auf das Einanderfinden von Liebenden, auf endliche Harmonie zustrebenden deutschsprachigen Autor: wenn ein Paradox, so kein müßiges. »Boštjans Flug« und »Der Kuß von Sentze« erzählen von der Liebe zwischen zwei blutjungen Menschen das gleiche, und, vor allem, auf die gleiche Weise.
Der Aufruhr des Schriftstellers Florjan Lipuš: In Boštjans Flug ist er so wild und so klar wie noch keinmal – wie eben nur Erzählen, und insbesondere schriftliches, gefügtes, klar sein kann. Und was macht Lipuš klar, was wird erstmals und endgültig klar? Die Mutter ist ihm, dem Kind, vom Heimathaus im Karawankengraben weggeschleppt worden, mitten im Weltkrieg. »Man« hat sie, weil sie Partei genommen hat, scheu, mit winzigen Gesten für ihre Sprache und die Sprache der Ihren, und den verfolgten Widerständlern gegen solchen Sprach- und Völkermord etwas zu essen gegeben hat, ins Konzentrationslager
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