Bragg 04 - Dunkles Verlangen
Augen verfolgt, wie ihre Mutter auf der Bühne gestikulierte, weinte und lachte, wie sie manchmal sogar starb – um kurz darauf wieder aufzustehen und im prasselnden Beifall des Publikums ein ums andere Mal auf die mit Rosen übersäte Bühne zu treten. Wieder und Wieder.
»Ist sie nicht wundervoll – deine Mami?«, hatte Janes Vater bei solchen Gelegenheiten meist gesagt und seine kleine Tochter zärtlich an sich gedrückt oder auf seinen Schultern reiten lassen. Jane stimmte ihm jedes Mal begeistert zu. »Fast so wundervoll wie mein kleiner Engel«, sagte er dann und strich ihr zärtlich über das platinblonde Haar. »Mein blauäugiger Engel.«
Jane hatte ihn nur angelacht und an seinem Haar gezogen. Dann kam ihre – noch ganz von dem Geschehen draußen auf der Bühne gefangene unglaublich schöne Mutter herein. Jane rief: »Mami, Mami«, und Sandra nahm das kleine Mädchen tief gerührt entgegen und drückte es inbrünstig an sich. »Liebling, Liebling! Deine Mami ist noch so aufgeregt. Hat dir die Vorstellung gefallen?« Und dann presste Janes Mutter ihr Gesicht zärtlich an die Wange ihrer Tochter.
Sandra Barclay war eine der größten Schauspielerinnen ihrer Zeit gewesen. jeder in London kannte sie. Janes Vater trug den stolzen Namen Lord Weston. Er war der dritte Sohn des Herzogs von Clarendon und durfte sich Viscount Stanton nennen. Jane hatte die wundervollsten Erinnerungen an ihre Eltern. Ständig waren sie zusammen gewesen – immer zu dritt und immer wieder an einem anderen Theater. Doch dann war ihr Vater gestorben, als sie gerade sechs Jahre alt war.
Danach folgte eine schreckliche Zeit. Ihre Mutter war für niemanden zu sprechen, und die kleine Jane erkannte die blasse, hagere Frau kaum wieder, die sich häufig von ihr abwandte.. Ihr Onkel, der nicht wirklich ihr Onkel war, sondern der Impresario der Theatertruppe, erklärte Jane mit vorsichtig gewählten Worten, dass ihr Vater jetzt im Himmel sei. Jane hatte schon vom Himmel gehört, deshalb verlangte sie kategorisch: »Sag ihm, er soll zurückkommen!«
»Das kann ich nicht, Jane«, entgegnete Robert Gordon leise. »Aber er ist im Himmel bei Gott, und er ist dort sehr glücklich.«
»Ist Papi gestorben?«
Robert war so überrascht, dass er kurz zögerte. Dann strich er ihr über das Haar. »ja, mein Engel. Aber keine Angst. Eines Tages siehst du ihn ganz sicher wieder.«
Jane fasste ihn vorne an seinem Hemd. »Ich will ihn aber jetzt wieder sehen!«, erklärte sie gebieterisch. »Sag ihm, er soll wieder aufwachen!«
»Das kann ich nicht«, erwiderte Robert gequält.
»Doch das kannst du«, sagte sie schluchzend, verzweifelt.
»Mami stirbt doch auch fast jeden Tag, aber sie wacht jedes Mal wieder auf und kommt nach Hause.«
Im ersten Augenblick verstand Robert nicht recht. Dann wurde ihm klar, dass sie die Bühnenauftritte ihrer Mutter meinte. »Liebes, das ist nicht dasselbe. Deine Mutter spielt auf der Bühne doch nur, dass sie in den Himmel geht. Dein Vater ist aber wirklich dort hingegangen.«
Jane konnte das alles einfach nicht fassen. Sie glaubte Robert kein Wort. Ganz sicher würde ihr Vater bald wiederkommen. Davon suchte sie auch ihre Mutter zu überzeugen, doch die weinte bloß. Weinte mit ihrer Tochter in den Armen, drückte sie heftig an sich, als ob Jane ihr den Schmerz erleichtern könnte. Und dann eines Tages wusste Jane, dass ihr Vater wirklich für immer weggegangen war. Nein, er kommt nicht mehr zurück, dachte sie – nie mehr.
Nach dem Ende der einjährigen Trauer kehrte ihre Mutter auf die Bühne zurück. Die Kritik fand ihre Auftritte nach der persönlichen Tragödie, die sie durchlitten hatte, noch beeindruckender und packender als zuvor. Niemand, der Sandra Barclay einmal auf der Bühne gesehen hatte, konnte sie je wieder vergessen.
Sandra lehnte es ab, Jane auf eine Schule zu schicken. Sie engagierte stattdessen einen Privatlehrer. So lernte Jane Lesen und Schreiben vor allem in der Garderobe ihrer Mutter, in riesigen leeren Zuschauerräumen oder bisweilen auch in dem großen Londoner Stadthaus ihrer Mutter in Chelsea. Als sie zehn Jahre alt war, wurde ihre Mutter sehr krank und verstarb drei Monate später. Keiner der Ärzte vermochte zu erklären, was zu ihrem Tod geführt hatte.
Mit ihren zehn Jahren war Jane inzwischen alt und verständig genug, um genau zu begreifen, was geschehen war. Hier ging es nicht um einen Bühnentod. Ihre Mutter war wirklich tot und würde nie mehr zurückkommen. Doch Robert und
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