Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
Michael Fitterlings Kennzeichen.«
Braig war von seinem Stuhl aufgesprungen, hatte blitzschnell verstanden. »Das Auto Michael Fitterlings. Nur dass nicht er selbst, sondern sein Bruder am Steuer saß.«
»Das konnte ich doch nicht wissen, woher auch«, hatte Daikler unaufhörlich gejammert, »und ich wollte ihm doch nur einen Schreck einjagen, mehr nicht, Sie müssen mir glauben. Ich wollte ihn doch nicht über den Abhang stoßen.«
»Weshalb saß der falsche Mann am Steuer?«
»Stollner hat es am nächsten Tag erfahren. Dieser Michael fuhr gegen zwanzig Uhr schon nach Reutlingen. Er hatte es eilig, wollte noch in ein Lokal, für seine Liebestäschle werben. Sein Auto sprang aber nicht an. Er bat seinen Bruder, nach dem Wagen zu sehen, der war so ein Motorfreak, lieh sich derweil dessen Fahrzeug. Und, wie der Teufel es will, ruft spät am Abend nach 22 Uhr irgend so ein Vollidiot bei diesem Christian Fitterling an und labert dem irgendwas von einem der Firmenfahrzeuge an den Hals, das seltsamerweise so spät noch unterwegs sei. Das könne nicht mit rechten Dingen zugehen. Und was macht der Kerl? Nimmt das inzwischen wieder funktionsfähige Auto seines Bruders und rast an mir vorbei. Scheiße, Scheiße, Scheiße.«
31. Kapitel
Weit über 100.000 Menschen hatten sich an diesem Abend im Mittleren Schlossgarten versammelt. Viele waren mit Windlichtern, Laternen und Lampions gekommen. Der Beginn des Protestzuges war in der ganzen Stadt zu hören: Punkt neunzehn Uhr erscholl aus zigtausenden Trillerpfeifen, Rasseln, Vuvuzelas und ähnlichen Instrumenten ein sechzig Sekunden anhaltender, den gesamten Talkessel durchdringender, ohrenbetäubender Lärm. Unmittelbar im Anschluss an diesen inzwischen jede Demonstration eröffnenden »Schwabenstreich« setzten sich die Menschen in Bewegung. Der Zug führte quer durch die Stuttgarter Innenstadt, am Hauptbahnhof vorbei in die Friedrichstraße, dann zum Schlossplatz. »Aufhören, aufhören!«, ertönten die Rufe, als der bereits großenteils abgerissene Nordflügel des Hauptbahnhofes passiert wurde, später dann: »Im ganzen Ländle schallt es laut, Stuttgart 21 wird nicht gebaut.«
Als die Spitze der protestierenden Menschen etwa zwei Stunden später über die Planie und die Adenauer-Straße wieder am Schlossgarten angelangt war, formierten sich dort gerade die letzten Demonstranten zum Ende des Zuges. Unaufhörlich schallte das: »Aufhören, aufhören!«, durch die Stadt.
Die Dunkelheit war längst angebrochen, als die Abschlusskundgebung zu Ende ging. Ein Bahnexperte und ein Pfarrer hatten auf die höchst dubiosen Umstände hingewiesen, unter denen das Projekt in die Wege geleitet worden war: Dass etwa eine ganze Reihe der verantwortlichen Politiker genau in den Aufsichtsräten der Firmen und Banken saßen, die von dem Bau am meisten profitierten. Dass zudem die Finanzierungsverträge im Frühjahr 2009 in einer Nacht- und Nebelaktion mit falschen, längst überholten Zahlen genau in dem Moment unterschrieben worden waren, als das Unternehmen Deutsche Bundesbahn/Deutsche Bahn zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg zwei Monate lang ohne verantwortlichen Chef hatte auskommen müssen.
Der gesamte Mittlere Schlossgarten war in einem riesigen Lichtermeer erstrahlt. Ältere und junge Menschen, Männer in Anzügen und Krawatte, Teenies, Punks, ganze Familien standen friedlich beisammen, diskutierten, lachten, scherzten, stimmten gemeinsam Lieder an.
Braig und Ann-Katrin hatten sich mit Neundorf, deren Sohn Johannes, Thomas Weiss und Theresa Räuber verabredet. Ann-Sophie im Kinderwagen vor sich herschiebend, marschierten sie mitten in der Menge mit. Auch dieser Abend verlief allen Gerüchten zum Trotz wieder friedlich.
»Ich kann es kaum fassen«, meinte Neundorf, die Stimmung genießend, »dieser ganze Lug und Betrug und trotzdem so eine aggressionsfreie Atmosphäre.«
Am Vortag hatten die Mächtigen endgültig ihre Masken fallen lassen. Polizeitruppen aus anderen Bundesländern hatten friedlich im Schlossgarten versammelte Menschen mit Wasserwerfern und Reizgas attackiert. Hunderte waren teilweise schwer verletzt worden, junge Mädchen ebenso wie viele Senioren. Szenen, wie man sie bisher nur aus totalitären Staaten zu kennen glaubte, hatten sich im Herzen Stuttgarts abgespielt. Fassungslosigkeit und Entsetzen über die Brutalität der Herrschenden hatte auch den letzten Winkel des Landes ergriffen. Und dennoch waren die Menschen friedlich geblieben, hatten sich
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