Braig & Neundorf 13: Schwaben-Sommer
1. Kapitel
Den Kopf nach vorne gebeugt standen sie vor dem Schreibtisch und starrten auf den Bildschirm des Computers. Sprach- und regungslos, vom Anblick der Szene wie gelähmt. Was ihnen hier präsentiert wurde, sprengte alles Dagewesene.
Das Gerät war neu, erst wenige Tage in Betrieb. 21,5 Zoll, Full-HD-Display, extrem dynamischer Kontrast von 60.000 zu 1, hatte Dr. Kai Dolde erklärt, als er es ausgepackt und anstelle des Vorgängermodells auf seinem Schreibtisch zurechtgerückt hatte; das sei mit das Beste, was es zur Zeit zu moderaten Preisen gab. Was immer man sich ansah – man würde glauben, unmittelbar vor Ort zu sein.
Kriminalhauptkommissar Steffen Braig hatte den von einem euphorischen Unterton geprägten Ausführungen nur mit halbem Ohr gelauscht. Technik, in welcher Form auch immer, war nicht sein Metier. Hauptsache, das Gerät funktionierte und war einfach und ohne ausgiebige Konsultationen von Handbüchern zu bedienen, mehr verlangte er nicht. Full-HD-Display, extrem dynamischer Kontrast von 60.000 zu 1 waren Begriffe, mit denen er nichts anzufangen wusste. Jetzt aber, diese bisher unvorstellbare Szene vor Augen, erinnerte er sich an Doldes Worte und musste im Nachhinein zugeben, dass der Techniker die Sache völlig korrekt beschrieben hatte: Braig glaubte tatsächlich, unmittelbar vor Ort zu sein.
Er hörte das leise Aufstöhnen seiner Kollegin neben sich, warf einen kurzen Blick zur Seite, sah das fassungslose Kopfschütteln Neundorfs. Der Kriminalhauptkommissarin, auch sie seit Jahren im Dienst des Landeskriminalamtes, ging es offensichtlich nicht anders als ihm selbst. Ein neues Zeitalter hatte begonnen, ahnte Braig, eine neue, bisher nicht bekannte Spielart der Kriminalität hatte jetzt auch hier im angeblich so friedlichen Ländle Einzug gehalten.
Für den Bruchteil einer Sekunde spürte er eine Welle der Irritation, sah er sich dem Ansatz eines Zweifels ausgeliefert, diesem unübersehbar in neue Dimensionen vorstoßenden Verbrechen noch gewachsen zu sein.
Er konzentrierte sich auf den Bildschirm, versuchte, sich aus seiner emotionalen Verwirrung zu lösen: Ein Raum, genauer gesagt ein Badezimmer mit zwei am linken Bildrand gerade noch an ihren Umrissen zu erahnenden Waschbecken und einer großen Wanne mittendrin. Die Form der Wanne war nicht das Entscheidende, auch nicht die Farbe. Eine weitgehend gewöhnliche, allein durch ein an der linken Innenseite angebrachtes Gestänge etwas aus dem Rahmen fallende Badewanne, etwa zwei Meter lang, knapp einen Meter breit, aus dem üblichen, speziell für hohe Temperaturen geeigneten Werkstoff. Im Inneren an den Seiten sanft gewölbt, in hellblauer, der Idealfarbe klaren Wassers nachempfundener Tönung, außen wie der Boden davor und die Wand dahinter mit weißen Fliesen verkleidet. Rechteckige, etwa dreißig auf fünfzehn Zentimeter große, hell glänzende Fliesen.
Das Außergewöhnliche war der Inhalt der Wanne, eine teigige Masse mit graubraunen Einsprengseln, die das Behältnis etwa zur Hälfte ausfüllte. Vierzig, fünfundvierzig Zentimeter hoch den gesamten unteren Bereich bedeckend – bis auf ein schmales Oval, in dem das grotesk verzerrte Gesicht eines Menschen wenige Finger hoch aus der Masse hervorlugte. Ein unwirkliches, absurd anmutendes Bild. Wie aus einer Science-Fiction-Verfilmung: eine von einem anderen Planeten stammende Kreatur, die Existenz der Menschheit bedrohend, irrlichterte es Braig durch den Sinn.
Dieser Mensch hier in der Wanne allerdings bedrohte niemanden – er schien sich im Gegenteil selbst in höchster Gefahr zu befinden. Seine unangenehme Position hatte er auf jeden Fall nicht freiwillig eingenommen, so viel war auf den ersten Blick klar; schwer atmend rang er um Luft, warf seinen Kopf von der einen auf die andere Seite, verzweifelt bemüht, sich von der Masse zu befreien, die sich auf seinem Gesicht ablagerte. Seine krampfhaften Versuche, den Kopf aus dem hellen Schlamm zu lösen, zeigten keinen Erfolg: Sisyphos’ Bemühungen ähnlich schwappte der beige-farbene Sumpf samt seinen graubraunen Einsprengseln unablässig zurück, bedeckte seine Wangen, die Stirn, Teile des Kinns und der Ohren.
Folter, ahnte Braig, irgendjemand hatte den Mann in die Wanne geworfen und dafür gesorgt, dass ihn die unappetitlich aussehende Masse gerade noch atmen ließ – auch wenn es nicht zu verhindern war, dass er einiges davon schluckte. Was dem Ganzen aber die besondere Schärfe verlieh, war die Darbietung im Internet. Der
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