Brainspam: Aufzeichnungen aus dem Königreich der Idiotie
die Kinnlade nach oben zu bringen.
Ich zog bevorzugt mit Ingo los; bei allem, was mir heilig ist: Die
amerikanische Sonne musste den Rest unserer überforderten Hirne gegrillt haben
– wir trugen »N.Y.«-T-Shirts, -Kappen, -Taschen, als wären wir
Schaufensterpuppen und fliegende Händler in einem. Der Sog der Stadt hatte uns
gepackt; rückblickend hätten wir auch Shirts anziehen können, auf denen Überfall
mich – ich bin ein deutscher Idiot stand.
Aber niemand belästigte uns. Wir waren den New Yorkern wohl
suspekt.
Ich kam gut mit Ingo aus. Dann ereignete sich der Vorfall
auf dem Empire State Building.
Wir standen auf der Plattform, sahen hinab in die Straßen
und staunten ordentlich. Hubschrauber voller Touristen, die offensichtlich zu
viel Geld hatten, stiegen auf wie stählerne Hummeln, um in den Häuserschluchten
zu kreisen, alles blinkte. New York.
Als ich mich umdrehte, war Ingo verschwunden; nur einige
unserer Jutekumpels diskutierten leise, ob der Erwerb eines Hotdogs auf der
Plattform okay sei, wo doch die Verkäufer unten in den Straßen um ihre Existenz
kämpften.
»Ingo?« Weg, der Mann.
Ich widmete mich wieder der Aussicht, mild überrascht
darüber, wie schnell man sich an etwas derartig Heftiges gewöhnte.
»Torsten«, zischte Ingo plötzlich hinter mir.
»Hm?«, sagte ich.
»Ich habe eine unfassbare Entdeckung gemacht.«
»Ah«, erwiderte ich. »Was denn wohl?«
»Man kann es nicht beschreiben – du musst es sehen. Es ist
unglaublich!«
Er war wirklich ziemlich aus dem Häuschen.
»Was denn? Sag schon.«
Sein Blick wurde träumerisch.
»Sieh selbst – und Dein Leben ist nie mehr wie zuvor. «
»Ach?«
»Geh durch die Stahltür dort«, raunte er, »dann den Gang
entlang, die letzte Tür links. Öffne sie, geh den kurzen Flur entlang, und
stoße diese Holztür auf.«
Ich marschierte los.
Die Stahltür führte mich in einen gleißenden Raum, typisch art
deco . Ich durchschritt ihn, nahm besagte letzte Tür links und fand mich in
einem schummerigen Durchgang wieder, der definitiv nicht für Besucher des
Gebäudes bestimmt war. Meine innere Anspannung wuchs, als ich die unscheinbare,
aus lackierten Brettern gezimmerte Holztür sah: Ich war angekommen. Wie
zur Hölle hatte Ingo hier her gefunden? Was hatte er hier verloren?
Was würde hinter dieser Tür sein? Ein vergessenes Gemälde
vielleicht – oder eine unfassbare Aussicht auf die City?
Ich stieß die Tür auf …
… und sah in zwei blutunterlaufene Augen.
Ein spitzer Schrei der Verblüffung entwich meiner Kehle,
verpuffte aber ungehört im Gebrüll des hockenden Wachmannes, den ich beim
Scheißen gestört hatte.
Er war wütend genug, sofort nach seinem Gummiknüppel zu
greifen, aber nicht wütend genug, um aufzustehen, lobet den Herrn.
Das war das zweite Mal, dachte ich, dass ein Kerl in
Fanbekleidung seinen Stuhlgang sabotierte, während ich den Weg zurück wetzte.
Dafür würde Ingo bluten, falls ich drum herum kam, durch eine Fünfkilo-Maglite
niedergestreckt und von einem zornigen Derwisch mit runtergelassenen Hosen in
eine Kammer gezerrt zu werden.
Ich hörte das Klimpern eines schweren Gürtels voller
Schlüssel hinter mir, als der Wachmann seine Hose hochzog – aber ich war schon
durch die Stahltür.
Ingos Gesicht war eine Fratze der Schadenfreude.
Er wollte etwas sagen, aber ich stoppte ihn mit einer
Handbewegung.
»Später. Weg hier.«
Ich floh, den wiehernden Ingo hinter mir her zerrend.
Drei Tage später war die Stunde der Rache da.
Ingo trug sich mit dem Gedanken, einen Discman zu kaufen; in
New York gab es nicht nur an jeder Ecke Electronic-Shops, man konnte dort auch
ziemlich gut handeln. Es wurde sogar erwartet; allerdings waren sowohl eine
gewisse Kaltblütigkeit als auch formelles Auftreten angebracht. Das Wichtigste
aber: Wenn man sich auf einen Preis geeinigt hatte, war dieser bindend. Kauf
oder stirb, aber stehle einem Geschäftsmann nicht die Zeit.
Dieses Phänomen hatte ich kennen gelernt, als ich nach zehn
Minuten eifrigen Rumgefeilsches eine Ray-Ban verschmähte, obwohl der Preis okay
war. Der freundliche Inder hatte mir ein »Fuck you, Bastard« zugeraunt – und es
hatte sich nur um einen Dollar Differenz gehandelt.
»Hilfst du mir beim Verhandeln?«, hatte Ingo gefragt.
»Sicher.«
Was Umgangsprache anging, war diese Stadt für Ingo eine
dunkle, tiefe Grube, auf deren Grund stählerne Pfähle auf ihn warteten, bereit,
ihn bei jeder Bestellung von Essen oder Erfragung
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