Bran
seinem korrumpierten Gedächtnis.
»Dein Angebot von neulich. Du kannst dich nicht verstellen.« Kundali spielte sich noch einen Schritt näher an ihn heran. Ihre physische Gegenwart war fast nicht zu ertragen.
»Ja.« Seine Zunge klebte an seinem Gaumen wie nach einem mehrstündigen Ritt durch die offene Wüste, wenn die Sonne im Zenit steht.
»Straner!« Sie bettelte wie ein kleines Kind. »Lass mich nicht hängen. Du hast es mir versprochen.«
»Selbstverständlich.« Wie ein Ertrinkender, der wild um sich schlägt, um irgendwo vielleicht noch ein Stück Treibgut zu fassen zu bekommen, suchte er nach Möglichkeiten, Zeit zu gewinnen. »Und was dachtest du, ich meine: wann?«
»Na, jetzt gleich natürlich.« Sie sah aus dem Fenster. »Also: heute Abend. Wenn die Sonne weg ist.«
Er nickte und tat so, als würde er überlegen. Aber sein Kopf war völlig leer.
»Ich bin schon so aufgeregt!«
Das Beste war es, sich der Situation zu überlassen. Er musste improvisieren. Einstweilen würde ihre Spontanität die Führung übernehmen.
»Und hör auf, so zu tun, als würdest du dich an nichts erinnern.«
Er lächelte und hoffte, dass es hintergründig wirkte.
»Unsere Nacht am Brunnen. Gleich nachdem wir übereinander gestolpert sind.«
Sie grinste schelmisch. Auf ihrer Lippe bildete sich ein Bläschen aus Speichel.
»Jetzt lass doch!« Straner winkte ab und tat so, als wolle er daran nicht erinnert werden.
»Ja, du warst betrunken. Du hast mir viel aus deiner Vergangenheit erzählt.«
Wieder dieses wissende Schmunzeln. Die Frage war, aus welcher Vergangenheit er da geplaudert hatte? »Bei Sonnenuntergang«, sagte er.
»Und schau mich nicht immer an wie eine Schauspielerin, von der du ein Autogramm willst.«
Die Tür schlug hinter ihr zu. Die Verriegelung, deren Nutzlosigkeit bereits erwiesen war, summte pflichtgemäß.
Straner sackte auf einen Stuhl und presste die Hand auf die Augen.
Diese Kundali war – anders. Sie war offener, als jene, die er gekannt hatte. Weicher und anschmiegsamer. Sie waren so vertraut miteinander, wie es in seinen Träumen gewesen war, aber nicht in jener Wirklichkeit, die er ausgelöscht hatte. Sie hatte mit ihm geplaudert und gescherzt! Dreißig Jahre seines Leben hätte er gegeben, wenn er erfahren könnte, was sich in der Nacht am Brunnen zugetragen hatte. Dort musste sich eine Insel aus Zeit gebildet haben wie eine Luftblase in einem Katarakt. Eine unzugängliche Oase in der Wüste der Geschichte, zu der es weder von der Zukunft noch von der Vergangenheit her einen Zugang gab. Etwas, das er nicht erlebt hatte und an das er sich nicht erinnern konnte. Aber es hatte stattgefunden.
Sie kam auf die Minute pünktlich, als die Prachtbauten der Plaza im Widerschein des bernsteinfarbenen zhidaischen Sonnenuntergangs brannten wie Fackeln in einem Lager kirgolischer Nomaden.
»Wo fangen wir an?«
»Schlag etwas vor!«
Er hatte sich ins Gedächtnis gerufen, dass er jener anderen Kundali, die nicht mehr existierte, einmal in Aussicht gestellt hatte, dass sie ihn auf einen seiner Gänge begleiten dürfe. Vielleicht war dieses Versprechen auf den anderen Zeitstrang hinübergerutscht wie eine Masche in einem feinen serafidischen Gewebe auf einen anderen Faden.
»Du bist der Geheimagent.« Sie hob die Hände zu einer karnevalesken Geste. »Was denkst du?«
Plötzlich gerieten ihre Gesichtszüge in Unordnung. Ihre In-Ears hatten ein modifizierendes Hologramm über ihr Gesicht gebreitet wie eine Larve beim Maskenball. Man sah, dass es eine Tarnung war. Das missfiel ihm. Vermutlich hätte es weniger Aufsehen erregt, wenn sie unverkleidet gegangen wäre.
Aber sie bestand auf dem Inkognito. Schließlich war sie die Infantin, allgegenwärtig in den Medien Zhids.
Sie gingen los. Natürlich hatte es noch nicht abgekühlt. Die Straßen und Gebäude strahlten die Hitze des Tages ab wie Speicherelemente die in ihnen verstaute Energie. Erst nach Mitternacht würde sich erfahrungsgemäß ein kühlender Wind erheben, der von der Wüste her blies und den undurchdringlichen Smog über der Megalopole etwas lichtete.
Sie tauchten in den plärrenden Wahnsinn Zhid Citys ein. Nach zwei, drei Blocks zu Fuß bestiegen sie die U-Bahn und fuhren wahllos einige Stationen in dieser, dann wieder in jener Richtung.
»Machen wir das, um Verfolger abzuschütteln?«
Er ließ sie in dem Glauben.
»Bist du je in der Untergrundbahn deiner Stadt gewesen?«
»Selbstverständlich!« Kundali war empört.
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