Bran
»Ich fahre oft mit Freundinnen zum Einkaufen ins Westend, in die Serafidenstadt, nach Thamal.«
Straner sah, dass sie log.
»Natürlich mit Personenschutz. Aber jetzt bist ja du da!«
Sie hängte sich an seine Schulter. Die Süße dieser Berührung war wie die einer kirgolischen Nachspeise, nach der man ein Glas Wasser trinken musste.
Aber sie flunkerte. Er spürte es an der Art, wie sie sich im Gedränge furchtsam an ihn presste. Auch an der Art, wie sie die Schamanenpriesterinnen musterte, die bei der Einfahrt eines Zuges das Glöckchen schlugen oder Votivzettelchen verkauften. Er atmete ihr Entsetzen, als sie über Bettler und Krüppel hinwegstiegen oder Veteranen der Salzkriege auswichen, die ihnen aggressiv ihre Amputationsstümpfe entgegenstießen. Er empfand den Druck, der ihre Brust zusammenschnürte, als er »aus Versehen« ein paar Stationen zu spät ausstieg und sie im Armeleuteviertel der Exil-Kazazunter herauskamen, wo halbnackte, kranke und unterernährte Kinder sich mit den Hunden um Abfälle stritten und Drogenabhängige im letzten Stadium der Agonie in ihren Exkrementen lagen.
»Ich bin ja oft in Wohltätigkeitsdingen unterwegs«, sagte sie tapfer. »Von daher kenne ich diese Sachen. Wir gehen auch mit aller Macht dagegen an.«
Straner konnte fühlen, wie sie den Brechreiz unterdrückte. Er war gnädig und kehrte rasch in die Bahn zurück, um sie in eine der Vorstädte des Serafidenviertels zu bringen.
Auch hier war alles unverändert, was immerhin erstaunlich war. Hatte die Zeit ein solches Bewegungsmoment, dass selbst ein Staatsstreich auf einen Hebel von dreißig Jahren so wenig Gewicht ausübte? Wie ein Teratonnenkreuzer, der seinen Flug durch die Galaxis fortsetzte, ob es nun an Bord ein paar Schießereien gab oder nicht.
Der eine oder andere Müllhaufen mochte ein wenig anders daliegen. Das eine oder andere Hochhaus mochte im Abbröckeln der Farbe ein anderes Mosaik bieten. Der eine oder andere geklaute und mit Ersatzteilen frisierte Scooter mochte in diesem Zhid ein bisschen früher oder später den Geist aufgegeben haben. Aber im Grunde war alles so, wie er es verlassen hatte.
»Wo sind wir hier?« Kundali klang ängstlich. Der Wald dieser kilometerhohen Türme war auf seine Weise in der Tat furchterregender als das schiere Elend weiter draußen.
»Das ist Xafiq«, sagte er. »Eine Schlafstadt am Rand des Serafidischen Quartiers.«
»Das ist entsetzlich.« Sie legte den Kopf in den Nacken und stierte an den mächtigen Bauwerken empor, die ihren Trotz dem sternenlosen Nachthimmel entgegenschwiegen. »Leben hier Menschen?«
»Das sind Menschensilos.« Straner musste beinahe lachen. »Zehntausend und mehr Seelen in einem solchen Turm. Manche verbringen ihr ganzes Leben in der Etage, in der sie geboren werden, achthundert oder tausend Meter über dem Niveau der Straße, die sie nie zu sehen bekommen.«
»Mein Gott!«
»Das ist Zhid City.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich dachte, du kennst dich hier aus.«
Er war abgelenkt worden und brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Dann erkannte er den charakteristischen asymmetrischen Platz wieder, der von einer Ansammlung sechseckiger Türme gebildet wurde.
»Was tun wir hier?«
»Ich will nur …« Ja, was wollte er?
»Ist gut. Du bist der Führer.«
Sie klebte an seiner Seite, als stakten sie sich im Urwald zwischen Krokodilen und Piranhas durch. Dabei waren es nur ganz normale Leute, die von der Arbeit oder anderen Erledigungen nach Hause kamen. Sie überließen sich dem Strom der Menschenmassen, der sie aufnahm und mit sich zog wie ein Fluss tief im Urwald einen kleinen schwankenden Einbaum.
Die Vorhalle war übervoll, heiß und stickig, wie er es gewohnt war, eine Stunde nach Sonnenuntergang. Zahllose Pendler kehrten von ihrer Tätigkeit heim, die sie in die Innenstadt oder ein anderes Außenviertel geführt hatte. Die Luft war kaum zu atmen. Flackernde Lampen warfen gelbes Licht über die schweißverklebten Köpfe der Leute, die gottergeben warteten. Qecha-Fliegen warfen sich wie Kampfgeschwader in verzweifelten Gefechten hin und her. Babys schrien, Halbstarke lieferten sich eine Rangelei.
Straner hatte den Arm um Kundali gelegt, die am liebsten in seine Achsel hineingekrochen wäre.
Der Elevator der Ostseite kam. Einhundert Personen drängten sich hinein. Die Plattform hob ab. In der Vorhalle hatte es kaum Platz gegeben, und von der Straße schoben ständig neue Leute nach. Zum Glück waren alle vier Gondeln in
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