Brandzeichen
Schatten, war ein Haufen Knochen zu sehen; die Knochen von kleinen Tieren. Als die Schokolade aufgezehrt war, war der Outsider gezwungen gewesen, auf die Jagd zu gehen, um sich Nahrung zu verschaffen. Und ohne die Mittel, ein Feuer anzuzünden, hatte er sich wie ein Wilder von rohem Fleisch ernährt. Vielleicht hatte er die Knochen deshalb in der Höhle behalten, weil er Angst hatte. Hinweise auf sein Versteck zu geben, wenn er sie draußen wegwarf. Daß er sie in der dunkelsten, entferntesten Ecke seines Zufluchtsortes verstaute, deutete auf ein Gefühl für Ordnung hin, aber Lem erschien es zugleich, als habe der Outsider die Knochen deshalb im Schatten versteckt, weil er sich seiner eigenen Wildheit schämte.
Am mitleiderregendsten war wohl eine seltsame Sammlung von Dingen, die in einer Felsnische der Wand über dem Grasbett abgelegt waren. Nein, entschied Lem - nicht einfach abgelegt: Die Gegenstände waren sorgfältig angeordnet, wie um sie zur Schau zu stellen, ganz so, wie ein Liebhaber von Glaskunst, Keramik oder Maya-Töpferarbeiten vielleicht seine wertvolle Sammlung zur Schau stellen würde. Da gab es ein rundes Gebilde aus farbigem Glas, wie Leute es manchmal an ihr Terrassendach hängten, damit es die Sonne reflektiere; das Ding war vielleicht zehn Zentimeter im Durchmesser und zeigte eine blaue Blume vor blaßgelbem Hintergrund. Daneben glänzte ein Kupfertopf, der vielleicht einmal auf derselben - oder einer anderen - Terrasse eine Pflanze enthalten hatte. Neben dem Topf standen zwei Dinge, die sicherlich aus dem Inneren eines Hauses stammten, vielleicht aus demselben Haus, in dem der Outsider die Schokolade gestohlen hatte: zunächst eine hübsche Porzellanplastik eines rotgefiederten Kardinalsvogelpärchens, das auf einem Zweig saß, wobei jede Einzelheit auf das Feinste herausgearbeitet war; sodann ein Briefbeschwerer aus Kristall. Offenbar wohnten selbst in der fremdartigen Brust von Yarbecks monströser Schöpfung ein Sinn für Schönheit und das Bestreben, nicht wie ein Tier zu leben, sondern als denkendes Wesen in einer Umgebung zu sein, die wenigstens entfernt an die Zivilisation erinnerte. Lem spürte einen Stich im Herzen bei dem Gedanken an die einsame, gequälte, sich selbst hassende, nicht menschliche und doch der eigenen Wesenheit bewußten Kreatur, die Yarbeck in die Welt gesetzt hatte. Zuallerletzt stand in der Nische über dem Grasbett eine Spardose in Form einer fünfundzwanzig Zentimeter hohen Micky-Maus-Figur. Lems Mitleid wuchs, weil er wußte, weshalb diese Spardose das Interesse des Outsiders geweckt hatte: Bei Banodyne hatte man Experimente durchgeführt, um Ausmaß und Eigenart der Intelligenz des Hundes und des Outsiders zu bestimmen und festzustellen, inwieweit ihre Wahrnehmungen denen eines menschlichen Wesens glichen. Dem Hund und dem Outsider hatte man von Zeit zu Zeit getrennt Videobänder vorgeführt, Filmausschnitte aller Art: Passagen aus alten John-Wayne-Filmen, eine aus >Krieg der Sterne<, Nachrichten, Szenen aus einer Vielzahl von Dokumentarfilmen - und alte Micky Maus-Zeichentrickfilme. Die Reaktionen des Hundes und des Outsiders wurden gefilmt, und später prüfte man, ob sie begriffen, welche Teile der Videobänder echte Ereignisse und welche solche der Fantasie zeigten. Beide Kreaturen hatten mit der Zeit gelernt, Fantasie zu erkennen; aber seltsamerweise war die Fantasie, an die sie am liebsten glauben wollten und an die sie sich am längsten festklammerten, Mickymaus. Mickys Abenteuer mit ihren Freunden zogen sie in ihren Bann. Nachdem er aus Banodyne entflohen war, war der Outsider irgendwie auf diese Sparbüchse gestoßen und hatte sie haben wollen, weil durch sie das arme, verdammte Geschöpf an das einzige echte Vergnügen erinnert wurde, das es im Labor gekannt hatte.
Im Scheinwerferkegel von Hilfssheriff Bockners Taschenlampe glitzerte etwas auf dem Regal. Es lag dicht neben der Sparbüchse, und sie hätten es fast übersehen. Cliff stieg auf das Graslager und holte den blitzenden Gegenstand aus der Wandnische: eine acht mal zehn Zentimeter große, dreieckige Scherbe von einem Spiegel. Hier verkroch er sich, dachte Lem. Hier versuchte er sich an seinen armseligen Schätzen zu freuen, sich eine Art Heim zu schaffen, so gut es ging. Hier nahm er gelegentlich dieses Spiegelfragment in die Hand und starrte sich an, suchte vielleicht voller Hoffnung nach wenigstens einem Zug in seinem Gesicht, der nicht häßlich war, versuchte vielleicht, sich mit dem
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