Brasilien: Ein Land der Zukunft
vorausdenkende Verwaltung erkannt, daß es nichts nützt, mit Raum zu sparen, indem man die Häuser höher türmt, wenn gleichzeitig die Stadt sich wie ein überkochender Topf weit und weiter hinaus ins Land ergießt. Die alten Hauptstraßen, die Rua Carioca und Catete und Laranjeiras, die nach Tijuca und Isidoro und Meyer halten den Verkehr mehr auf als sie ihm dienen, und von dem neuen Wohnviertel in das Herz der Stadt fährt man mit dem Auto eine halbe Stunde und noch mehr. Es mußte also Raum gewonnen werden um jeden Preis, und am nachgiebigsten, am gefälligsten erwies sich noch das Meer. Einer Bucht, die sich auf Meilen dehnt, zweihundert und sogar fünfhundert Meter durch Aufschüttung fortzunehmen, hieß dem unendlichen Meer nicht viel nehmen und doch der Stadt unendlich viel gewinnen. So entstanden die großen Strandboulevards, die heute den Blick umranden und durch den Blick auf das Meer und die Landschaft, geschmückt mit Bäumen, durchzogen von Gärten, mit ihren immer abwechslungsvollen Formen dem modernen Rio als Entgelt für seine alte Romantik eine neue Schönheit geben. Sie wirken wie der weiße Rand eines Buches um den gedruckten Text. Jede Seite dieses wie von Gottes Hand aufgeschlagenen Buches sagt eine andere Schönheit aus, und man wird nicht müde, sie immer und immer wieder aufzublättern. Dank der bizarren Formung, in der sich in fünffachen und sechsfachen Buchten das Meer in die Stadt hineinschmiegt, wirkt an jeder Kurve der Blick abwechslungsreicher. Man kann Rio wirklich nur mit einem gemalten Fächer vergleichen, wo jedes Blatt seine besondere Zeichnung hat und doch erst der voll ausgebreitete Fächer das ganze Bild ergibt.
Wer diese Strandboulevards im Auto durchfährt oder – wenn er stundenlang zu marschieren bereit ist – entlanggeht, durchwandert eigentlich sechs oder sieben oder acht völlig verschiedene Städte. Da strahlen zuerst zur Linken der Avenida Rio Branco all die Straßen aus, die zum Hafen und damit in die Hafenstadt führen. Hier landen die großen Ozeandampfer, hier stoßen die Ferryboote nach den Inseln ab, hier füllt sich der farbenfunkelnde Markt mit Blüten und Früchten, hier wartet der Flugplatz mit seinen silbernen Schwalben, hier scharen die Docks und die Arsenale und die Kasernen der Marine sich zusammen; in neuer stolzer Gruppe erhebt sich der mächtige Block der zusammengescharten Ministerien, zwölf-, vierzehn-, sechzehnstöckige Bauten von neuzeitlichstem Charakter. Nach einem kühnen Plan ist beinahe die ganze Verwaltung des riesigen Reiches hier wie zu einem einzigen aufstrebenden Block vereinigt. Aber mag auch Hafen und Geschäftsstadt und Verwaltungsstadt um ein paar Nuancen farbiger getönt sein als anderswo, die Physiognomie der Moderne wirkt hier noch international. Noch hat man die eigentliche, die persönliche Stadtschönheit Rios nicht gespürt, die weder im Nutzhaften noch im Historischen liegt, sondern in der unvergleichlichen Kunst, wie sie alle Gegensätze harmonisch zu lösen vermag.
Die kostbare, nachts mit tausend Lichtperlen leuchtende Kette der Standboulevards beginnt eigentlich erst, sobald man die Avenida verläßt; die Prac̣a Paris, von der sie ausgeht, ist gleichsam ihre kunstvolle Schließe. Der Name Prac̣a Paris ist nicht zufällig. Zweifellos haben die französischen Stadtarchitekten, die den Plan entwarfen, an die Place de la Concorde gedacht, wenn sie abends mit den runden Bogenlichtern strahlte. Aber diese Prac̣a Paris hat noch den Blick auf die Bucht mit ihren gegenüberliegenden Inseln und Bergen, Luxus des Städtischen verbindet sich dem Verschwenderischen der Natur in einem unvergeßlichen Bild. Zwischen das blaue Meer und die weißen Häuserreihen ist ein breiter Streifen Grün gestellt, und der Himmel ruht offen über den Wipfeln dieses Parks, durch den blau, rot, grün, gelb wie wildgewordene Tiere die Automobile und Autobusse sausen, ohne aber wie in den meisten anderen Straßen durch ihr Jagen und Heulen den Blick zu verwirren. Hier kann der Blick rasten und betrachten, was ihm beliebt. Die belebte Linie der Palácios und Hotels, die freie Bucht mit ihrem weißen Saum von Niterói und den Schiffen und Ferrybooten oder auf den Hügeln über den Häusern die weiße, noble, alte Gloria-Kirche [Nossa Senhora da Gloria], die sich abhebt von den massigeren Hängen des wie eine Kulisse fern aufsteigenden Gebirges.
Schon glaubt er alles umfaßt zu haben, dieser erste Blick, die ganze panoramische Schau, aber wie
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