Brasilien: Ein Land der Zukunft
Lebensgeschichte, ihre Entwicklung kennen. So geht mein erster Weg in jeder neuen Stadt zunächst zu den Fundamenten, auf denen sie sich erbaut hat, um ihr Heute aus dem Gestern zu begreifen. Nichts natürlicher, als daß ich in Rio zunächst den Morro do Castelo, den historischen Hügel suchte, wo sich vor vierhundert Jahren die Franzosen verschanzt hatten, und auf dem die siegreich stürmenden Portugiesen dann den eigentlichen Grundstein ihrer Stadt gelegt. Aber vergebens die Suche. Der historische Hügel ist abgeräumt. Kein Stein, keine Scholle Erde ist mehr davon zu finden. Das Terrain ist längst nivelliert, und breite Straßen erheben sich auf dem abgeflachten Boden. Merkwürdiges Phänomen. Das alte Rio ist verschwunden und das neue steht auf einem völlig anderen Grund als die Stadt des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts. Wo heute die asphaltierten Straßen laufen, war ursprünglich nur Sumpf gewesen, von kleinen Flußläufen durchzogen, ungesund und unbewohnbar, und die ersten Ansiedler hatten sich auf die Hügel hinaufgerettet. Erst allmählich konnte Terrain dem Sumpf und dem Meer abgewonnen werden, indem man das Land zwischen den Hügeln austrocknete, die Flußläufe zuschüttete oder kanalisierte und gleichzeitig durch Aufschüttung die Ufer immer weiter in die Bucht hineinschob. Dann wiederum fielen die Hügel, die den Verkehr hemmten. So hat sich in dreihundert Jahren die Stadt eigentlich völlig umgestülpt, und alles oder fast alles Historische ist dieser ungeduldigen Verwandlung zum Opfer gefallen.
Es ist kein großer Verlust, denn im sechzehnten, im siebzehnten und weit bis ins achtzehnte Jahrhundert war Bahia die Hauptstadt Brasiliens und Rio zu arm, zu gering für Kunstbauten und prunkvolle Paläste. Selbst als zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der portugiesische Hof hier seine Residenz aufschlug, fanden die unfreiwilligen Gäste keine würdige Unterkunft. So reicht alles Historische bestenfalls in die Kolonialzeit zurück, und ein Haus von hundertfünfzig Jahren genießt hier schon im Gegensatz zu Bahia die Reverenz der Ehrwürdigkeit. Von dieser kolonialen Zeit, ihrem Stil und ihren Lebensformen bekommt man am besten ein Bild in den wenigen in ihrer Echtheit noch unveränderten Gassen um die Alfândega in Rio. Sie sind noch typisch portugiesisch und wirken angenehm in ihrer anspruchslosen Bescheidenheit. Einstöckig und zweistöckig, einstmals wohl bunt getüncht, haben sie keine andere Zier als das schön gehämmerte eiserne Spitzenwerk der Balkone; zurückgesunken nach einstiger Vornehmheit dienen sie ausschließlich mehr den kleinen Geschäften. Zu ebener Erde stehen die Läden, die Armazems mit ihren Warenlägern offen, man blickt frei auf die aufgestapelte Ware, und meist riecht man sie schon zuvor, denn diese engen Gassen um den Hafen, die letzten unveränderten aus der Kolonialzeit, schwelen von einem fettig warmen Dunst von Fischen, Obst und Gemüsen. Es bedürfte nicht der ausgezeichneten Schilderungen Luís Edmundos in seinem Buch über Rio zur Zeit der Vizekönige, um zu ahnen, wie schauerlich verpestet und stickig diese engen Durchlässe gewesen sein müssen in einer Zeit, da Menschen und Vieh gemeinsam die Gasse bevölkerten und die primitivsten Gesetze der Hygiene noch nicht beachtet wurden. Auch die wenigen öffentlichen Gebäude aus den Zeiten der Kolonie, die Palais und Kasernen, sind hastig und billig ohne Plan und Ambition gebaut und stellen bestenfalls wohlfeile Kopien der portugiesischen dar. Jedes sentimentale Klagen um das »alte Rio« ist also eigentlich nur Angelegenheit von ein paar alten Leuten, die unbewußt ihre eigene Jugend beklagen. In Wirklichkeit hat Rio mit allem, was es wegräumte, wenig oder nichts verdorben. Von der Kolonialzeit verdienen einzig ein paar Kirchen, vor allem die wunderbar gelegene der Glória und São Francisco sowie der Aquädukt mit seinen nobel geschwungenen Linien geschützt zu werden und allenfalls als Wahrzeichen die eine oder die andere dieser kleinen farbigen Gassen. Denn ein großes Denkmal seiner Vergangenheit ist als Wahrzeichen unvergänglich: die Kirche und das Kloster von São Bento.
Diese Kirche von São Bento hat sich vom Wandel der Jahrhunderte gerettet, indem sie sich tapfer und einsam vom ersten Tage an auf einem Hügel verschanzte; so blieb dieses Bauwerk, 1589 begonnen, das einzige imposante Denkmal des sechzehnten Jahrhunderts, und vergessen wir nicht: ein Kunstwerk aus dem sechzehnten Jahrhundert ist
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