Brasilien: Ein Land der Zukunft
strahlende Sonne, wolkenloser Horizont – so ist der Sommer in Rio.
In summa: er ist erträglich. Und zwei Millionen Menschen ertragen ihn, ohne zu klagen und sogar vergnügt. Sie passen sich ihm nur an. Alles trägt Leinenkleider, die ganze Stadt funkelt in Weiß wie bei einer Marineparade, und vom November an wird Rio ein einziger Badestrand; zwei, drei Straßen vom Ufer her – und fast überall ist Ufer – gehen die Leute in Schwimmhosen und Badekostümen, um rasch ein- oder zweimal des Tags den erfrischenden Sprung ins Meer zu tun; um fünf Uhr morgens, ehe sie frühstücken oder zur Arbeit gehen, rücken die ersten an, und das geht bis tief in die Nacht, an manchen Tagen sind an dem einen Strand von Copacabana hunderttausend Menschen zu finden. Nichts irriger als zu glauben, die Cariocas, die Leute von Rio, würden durch den Sommer erschöpft und ausgelaugt: im Gegenteil, es ist, als sammelte sich in ihnen diese aufgestaute Hitze zu einem einzigen impulsiven Ausbruch, der dann mit kalendarischer Regelmäßigkeit im Karneval erfolgt. Der Karneval von Rio ist, man weiß es, ein Unikum an heiterem und leidenschaftlichem Überschwang in unserer seit Jahren reichlich verdüsterten Welt. Monatelang zuvor wird gespart und geübt, denn jeder Karneval bringt neue Lieder und Tänze. Und da der Karneval ein demokratisches Fest hier ist, ein Lustausbruch, eine Temperamentsmanifestation des ganzen Volks, hört man diese Lieder schon überall vorausgeübt, damit jeder einstimmen könne; man hört sie in den Kasinos, den Restaurants, im Radio, im Grammophon und in den Negerhütten; überall wird geübt und exerziert zu der großen Parade der kollektiven Freude. Wenn der Kalender dann endlich die Verstattung gibt, schließen für drei Tage alle Geschäfte, und es ist, als sei die ganze Stadt von einer riesigen Tarantel gestochen. Alles lebt auf den Straßen, bis tief in die Nacht wird getanzt, gesungen und mit allen denkbaren Instrumenten bis zur Raserei gelärmt. Jeder soziale Unterschied ist aufgehoben, Fremde wandern Arm in Arm mit Fremden, jeder spricht jeden an, und allmählich steigert sich die gegenseitige Erhitzung, das unaufhörliche Lärmen zu einer Art Tollheit; man findet Menschen erschöpft auf der Straße liegen, ohne daß sie einen Tropfen Alkohol getrunken, sie haben sich nur krank getanzt und gelärmt. Aber das Merkwürdigste, das typisch Brasilianische ist, daß selbst in diesen Ekstasen die Leute selbst des niedersten Volkes nicht ihre innere Humanität verlieren und zum Pöbel werden; trotz Maskenfreiheit geschieht nichts Brutales, nichts Unanständiges inmitten einer kindlich tobenden und Tag und Nacht durcheinanderquirlenden Menge; einmal sich ausschreien, austanzen, das Leise, das Zurückhaltende orgiastisch loswerden zu dürfen, erlöst sich im Taumel dieser drei Tage – es ist wie eines jener Tropengewitter des Sommers. Und nachher wieder das alte stille Gebaren, die Stadt kehrt in ihre alte Ordnung zurück. Der Sommer ist gefeiert, die gestaute Hitze aus den Menschen gleichsam herausgefahren, Rio ist wieder Rio, die Stadt, die still und stolz ihre eigene Schönheit spiegelt.
Niemand nimmt gern Abschied, der hier einmal gewesen. Bei jedem Fortreisen und von jedem Ort wünscht man sich zurück. Schönheit ist selten und vollendete beinahe ein Traum. Diese eine Stadt unter den Städten macht ihn wahr auch in düstersten Stunden; es gibt keine tröstlichere auf Erden.
Blick auf São Paulo
Um die Stadt Rio de Janeiro darzustellen, müßte man eigentlich ein Maler sein, um São Paulo zu schildern, ein Statistiker oder Nationalökonom. Man müßte Zahlen türmen und vergleichen, Tabellen nachzeichnen und versuchen, Wachstum in Worten sichtbar zu machen; denn nicht seine Vergangenheit und nicht seine Gegenwart machen São Paulo so faszinierend, sondern sein gleichsam unter der Zeitlupe sichtbares Wachsen und Werden, sein Tempo der Verwandlung. São Paulo gibt kein Bild, weil es seinen Rahmen ständig erweitert, weil es zu unruhig ist in seiner rapiden Veränderung; man zeigt es am besten als Film, und zwar als einen, der von Stunde zu Stunde rascher abrollt; keine Stadt Brasiliens und wenige der ganzen Erde lassen sich an Ungestüm der Entwicklung dieser ehrgeizigsten und dynamischsten Brasiliens vergleichen.
Ein paar Zahlen also, nur um einen Maßstab zu haben, eine Art Thermometer für die Fieberkurve dieser Entwicklung. Um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts gründen die Jesuiten ein paar
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