Brasilien: Ein Land der Zukunft
Läufers, der vorwärts, vorwärts rennt und sich an der eigenen Geschwindigkeit berauscht. Was ihr an Schönheit noch fehlt, ist aufgewogen durch Energie, die hier in diesen tropischen Zonen viel auffälliger und wertvoller wird, und was noch wesentlicher ist: diese Stadt weiß, daß sie sich ihre Form erst erobern muß, und da die Paulisten eine starke Rivalität gegen Rio de Janeiro beseelt, ein Wille, nicht inferiorer, nicht unkünstlerischer zu wirken, so kann man hier in den nächsten Jahren auf allerhand Überraschungen gefaßt sein.
An eigentlichen Sehenswürdigkeiten – ein unangenehmes, hochmütiges Wort – hat São Paulo heute noch nicht viel, und alle drei haben bei ihrer Großartigkeit einen fatalen Beigeschmack. Da ist das Ypirangamuseum, das die ganzen ethnographischen Verschiedenheiten der brasilianischen Fauna, Flora und Kultur in ausgezeichneter Weise und durchdachter Übersicht zeigt; aber was man im Durchwandern der Säle fühlt, ist eher Sehnsucht als Erfüllung, denn die tausend verschiedenfarbigen Kolibris und Papageien möchte man doch in ihrer Umwelt sehen, frei und unbekümmert statt ausgestopft, und man weiß, ein paar Stunden weit, da beginnt schon der Wald und die Dschungel, und während man noch vor den Schaukästen steht, träumt man von diesen phantastischen Regionen. Alles Exotische hört sofort auf, exotisch zu wirken, sobald es schaumäßig aufgestellt und schematisiert ist; sofort wird es trocken wie ein Lehrgegenstand, wie eine starre Kategorie, und deshalb empfindet man (gegen die eigene Vernunft, die ein solches Museum bewundert und seine Leistung nicht genug schätzen kann) festgehaltene Natur inmitten einer so wild und üppig blühenden Natur ein wenig als Widersinn. Einer dieser entzückenden kleinen Affen, von Palme zu Palme frei sich schwingend, begeisterte uns gewiß als eine Gnade der Natur, aber eingereiht und mumifiziert in allen Varianten an eine Wand gereiht, löst der Anblick von hundert Affenarten nur eine technische Neugier aus. Schon Menagerien wirken nicht ganz wirklich, um wieviel weniger Museen, selbst wenn sie wie dieses mit der äußersten Sorgfalt geleitet und zu einem großartigen Ganzen vereinigt sind. Alles Eingeschlossene bedrückt – und so ward mir das Herz auch nicht frei, als ich die andere Sehenswürdigkeit sah, die »penitenciária«, das berühmte Gefangenenhaus von São Paulo, eine Musteranstalt, die der Stadt, dem Land und seinen Leitern hohe Ehre macht. Hier ist das Problem der Strafanstalt – das moralisch nie ganz lösbare – im humansten Sinne angefaßt, und das Land, das die Todesstrafe nicht kennt, hat sich bemüht, für seine Verbrecher nach den durchdachtesten und neuesten Prinzipien zu sorgen. Hier ist die Humanität in der Behandlung der Zuchthäusler nicht wie in anderen Ländern als eine Rückständigkeit abgeschafft, sondern bewußt entwickelt und nach der Idee gefördert, daß jeder Gefangene die ihm gemäßeste Arbeit leisten und das ganze Haus gleichsam eine autarke Gemeinschaft bilden solle, wo alles durch die Insassen geschieht. Man sieht in diesem großen, großartig reinen und hygienisch gebauten Häuserkomplex den ganzen Betrieb einzig von den Insassen in Bewegung gehalten; das Brot wird von ihnen gebacken, die Medikamente verfertigt, die Klinik geführt und das Spital, die Gemüse gepflanzt und die Wäsche gewaschen, kaum irgendwann muß von außen jemand zur Hilfe gerufen werden; jede Bestrebung zu künstlerischer Tätigkeit wird von den Leitern gefördert, ein ganzes Orchester hat sich geformt, in Sälen sieht man ihre Zeichnungen, und so gibt sogar in einem Lande, das in den schwerer erfaßbaren Zonen noch ziemlich viel Analphabeten zählt, das Gefangenenhaus Gelegenheit nachzuholen, was die Schule versäumte. Nichts Musterhafteres kann man sich erdenken als diese Anstalt, die für sich allein schon den europäischen Hochmut korrigieren könnte, bei uns seien alle Einrichtungen die perfektioniertesten der Welt, und doch – mit entlastetem Atemzug saugt man die Luft ein, sobald endlich die letzte von den vielen schweren Eisentüren, die man durchschritten, hinter einem zufällt und man wieder Freiheit atmet und freie Menschen sieht.
Mit einem ähnlichen Atemzug der Entlastung verläßt man auch die Schlangenfarm zu Butantan, obwohl man Großartiges dort gesehen und Wesentliches gelernt. Was dort das Publikumsschauspiel ist – nichts lieben ja die Menschen mehr, als sich zu graulen, wenn es gleichzeitig
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