Breathe - Gefangen unter Glas: Roman (German Edition)
Betonmauern entlangtasten muss, um die Tür zum Bunker zu finden. Dort gebe ich das vereinbarte Klopfzeichen. Nach einer Weile höre ich ein Klicken, dann öffnet sich die schwere Tür nach innen. Ich schlüpfe hinein und drücke die Tür hinter mir zu.
»Alina«, flüstert eine Stimme.
»Hey, Jazz!«, grüße ich und wuschele dem Mädchen durch die roten Korkenzieherlocken. »Wo ist sie?«
»Schläft«, antwortet Jazz. »Warum bist du hier?«
»Das Übliche.«
»Wer ist denn gestorben?«
Ich bringe seinen Namen nicht über die Lippen. »Ein frisch Rekrutierter.«
»Was? Ein Neuer? Oje, das ist das Schlimmste«, antwortet sie. »Willst du, dass ich sie wecke?«
»Hm, solltest du wohl besser nicht.«
»Nein, solltest du wohl besser nicht. Ich kann das jederzeit. Ich kann tun und lassen, was ich will.«
Jazz hüpft voraus in den spärlich beleuchteten Bunker. Sie ist die Jüngste von uns: ein neunjähriges Mädchen und der einzige Mensch, den ich kenne, der im Ödland geboren wurde. Aber ihre Mutter ist mit dem Leben hier nicht fertig geworden, sie hat aufgegeben und die Widerstandsbewegung verlassen, lange bevor ich dazugestoßenbin. Sie hat Jazz, als diese noch ein Baby war, ohne ein Wort der Erklärung verlassen, ohne eine persönliche Nachricht oder einen Brief für später. Niemand hat je wieder von ihr gehört. Heute verbringt Jazz die meiste Zeit damit, durch den Rebellenhain zu laufen und mit jedem zu plaudern, der stehen bleibt und ihr ein Lächeln schenkt. Und wenn sie gerade nicht im Stadion herumflitzt, dann klebt sie an Petra.
Ich folge ihr. Auf jedem verfügbaren Quadratzentimeter des Bunkers hocken Leute im Schneidersitz auf dem harten Boden. Manche liegen auch zusammengekrümmt auf einem der Feldbetten. Anscheinend haben sich tatsächlich alle rund zweihundert Rebellen hier zusammengekauert, etliche von ihnen mit einem Buch aus Papier vor der Nase – von dem Stapel geretteter Bücher, der an der Bunkerwand lehnt.
»Alina!«, höre ich eine Stimme, kurz darauf eine zweite, und binnen einer Minute bin ich von über zwanzig Freunden umringt, die mich alle umarmen und an sich drücken. Keiner von ihnen trägt ein Atemgerät und nach einer Weile wird auch mir die Atemmaske abgenommen.
»Die brauchst du hier nicht«, sagt Song, Dorians Cousin, und deutet auf die Öffnungen in der Decke. »Ich hab’s auf achtzehn Prozent eingestellt. Das sollte reichen, oder?«
Ich nicke.
Song ist unser Biochemiker. Nachdem unsere Ingenieure die auf- und zuklappbare Tarnabdeckung für das Stadion installiert hatten, tüftelte Song in Windeseileeine Methode aus, um den Sauerstoff, den die Bäume und Pflanzen erzeugen, zu speichern und in bestimmte Räume des Gebäudes einzuspeisen. Denn obwohl die meisten von uns können, was Dorian kann, nämlich frei atmen, gibt es doch Zeiten, wo wir alle eine höhere Sauerstoffsättigung brauchen – allein schon, um unsere Gehirne fit zu halten. Song ist ein unsagbar wichtiges Mitglied des Widerstands, er ist so wertvoll für die Bewegung, dass er niemals auf Missionen ausgesandt wird. Auf ihre wertvollsten Mitstreiter passt Petra auf wie ein Schießhund.
»Ja, danke, das reicht«, sage ich und reiche ihm meine Sauerstoffflasche.
In dem Moment bahnt sich Jazz mit den Ellbogen einen Weg in die Mitte des Pulks.
»Hey, du sollst kommen. Petra ist wach. Sie erwartet dich in der hinteren Nische.«
Ich folge Jazz in den hintersten Winkel des Bunkers. Auf einer erhöhten Matratze, die mit unzähligen bunten Tüchern und Kissen bedeckt ist, hockt Petra im Schneidersitz, summend und mit geschlossenen Augen. Ihre grau melierten hüftlangen Dreadlocks, die sie normalerweise zu einem dicken Knoten hochbindet, schlängeln sich den Rücken hinunter und fallen bis auf ihre dünnen, nackten Arme.
»Sie meditiert«, flüstert Jazz. »Sie speichert Kraft und Ausdauer.«
Ich nicke und wir schauen ihr eine Weile zu. Alle Rebellen meditieren mit Petra. Jazz ist ziemlich gut darin. Jetzt klettert sie zu Petra aufs Bett, setzt sich mit überkreuztenBeinen neben sie und schließt ebenfalls die Augen. Ich betrachte die beiden eine Weile, dann wandert mein Blick zu Petras rechtem Arm, den ein riesiges Tattoo ziert. Es beginnt auf dem Handrücken mit sehr dünnen, fein gezeichneten Baumwurzeln, die sich auf dem Unterarm zu einem Stamm vereinen, der sich wiederum auf Ellbogenhöhe verästelt und verzweigt. Bis über die Schulter und die Brust breitet sich die Baumkrone aus. Auch Jazz hat ein
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