Brennendes Land
Netzwerk geborstenen Straßenpflasters, das von der Brandung überspült wurde.
Viele andere Siedlungen am Rande des Kontinents waren nicht so glimpflich davongekommen. Ständig wurden an amerikanischen Stränden Plankenwege, Teile von Kaianlagen und selbst komplette Häuser angespült.
Oscar schlenderte an einer Ansammlung zerknautschten Aluminiums vorbei. Das viele Treibgut erfüllte ihn mit wohliger Melancholie. Er hatte noch keinen Strand betreten, der nicht bedeckt gewesen war mit verrosteten Fahrrädern, vollgesogenen Sofas, pittoreskem, vom Sand blankgescheuertem medizinischem Abfall. Seiner Ansicht nach klagten Eiferer wie die Niederländer viel zu sehr über die Folgen des ansteigenden Meeresspiegels. Wie alle Europäer waren die Niederländer in der Vergangenheit verhaftet, unfähig, sich mit den neuen globalen Realitäten pragmatisch zu arrangieren.
Bedauerlicherweise ließ sich der gleiche Vorwurf auch gegen die Vereinigten Staaten erheben. Oscar sann über seine ambivalenten Gefühle nach, während er sorgfältig den Brandungsschaum von seinen polierten Schuhen streifte. Oscar betrachtete sich als amerikanischen Patrioten. In der Tiefe seines kalten, schweigenden Herzens war er der amerikanischen Politik so zugetan, wie sein Beruf und seine Kollegen es eben zuließen. Oscar respektierte und schätzte die archaische Förmlichkeit des US-Senats. Der Clubcharakter des Senats übte einen starken Reiz auf ihn aus. Die gemächlichen Debatten, die Garderoben, die Verfahrensregeln, der personalisierte, präindustrielle Sinn für Würde… Er glaubte, eine perfekte Welt müsse ganz ähnlich organisiert sein wie der US-Senat. Ein gefestigtes Reich alter Fahnen und dunkler Holztäfelung, wo in einer Festung gemeinsamer Werte verantwortungsvolle, kluge Debatten geführt wurden. Oscar betrachtete den US-Senat als starkes, würdevolles Gebäude, von tüchtigen politischen Architekten erbaut, um zu überdauern. Wären die Umstände günstiger gewesen, hätte er sich mit Freuden des Systems bedient.
Oscar aber war ein Kind seiner Zeit und wusste daher, dass ihm dieser Luxus verwehrt war. Er wusste, dass es seine Pflicht war, sich den gegenwärtigen politischen Realitäten zu stellen und sie zu meistern. Und die Realität sah so aus, dass die elektronischen Netzwerke die alte Ordnung innerlich ausgehöhlt hatten, ohne eine neue Ordnung an ihre Stelle zu setzen. Die erschreckende Geschwindigkeit der digitalen Kommunikation, die damit einhergehende Einebnung der Hierarchien, der Aufstieg der netzbasierten Zivilgesellschaft und der Verfall der industriellen Basis hatten die amerikanische Regierung überfordert.
Mittlerweile gab es sechzehn größere Parteien, unterteilt in widerstreitende Lager, geprägt von internen Grabenkriegen, von Überläufern und Säuberungen. Es gab Städte in Privatbesitz mit Millionen ›Kunden‹, die herzlich wenig auf das Gesetz gaben. Es gab mafiöse Preiskartelle, Geldwaschanlagen und grüne Tauschringe. Es gab Gesundheitsorganisationen in der Hand von verrückten Organhändlerbanden, bei denen jeder Quacksalber, der in der Lage war, sich ein Chirurgieprogramm herunterzuladen, komplizierte medizinische Techniken anwenden durfte. Vollkommen ortsungebundene Netzmilizen zapften alle möglichen Informationen ab. Im amerikanischen Westen gab es abtrünnige Counties, wo sich ganze Städte an Nomadenstämme verkauft hatten und einfach von der Landkarte verschwunden waren.
In Neuengland gab es Stadtzusammenschlüsse, die über mehr Rechenleistung verfügten als früher die ganze US-Regierung. Kongressangestellte bildeten unabhängige Gruppen. Die Exekutive verzettelte sich in endlosen Grabenkriegen mit zahllosen Dienststellen, die alle ausgezeichnet informiert, sehr aktiv im Netz und daher vollkommen unfähig waren, eine realistische Tagesordnung aufzustellen und sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren. Die Nation war verrückt nach Meinungsumfragen, die noch nie so zynisch manipuliert worden waren wie derzeit – die geringsten Anlässe brachten verbissene, auf einem einzigen Thema beruhende Bündnisse hervor und zogen zahllose automatisierte Klagen nach sich. Die konfuse Steuergesetzgebung hatte jede Verbindung zur Realität verloren, wurde vom E-Commerce gewohnheitsmäßig umgangen und von den Bürgern nur zähneknirschend geduldet.
Während der inländische Konsens immer weiter schwand, richteten die Notstandsausschüsse im Gefolge des verlorenen Wirtschaftskriegs mit China ein
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