Brennpunkt Nahost: Die Zerstörung Syriens und das Versagen des Westens (German Edition)
vorführen, gekauft in Damaskus und nicht mehr in Beirut wie früher. In großen Hotels und einigen Shoppingmalls war es sogar möglich gewesen, mit Kreditkarte zu bezahlen, ehe die Sanktionen der USA und der EU das Land wieder von den internationalen Märkten abschnitt. Bis zu diesen Sanktionen hatte Syriens Wirtschaft Wachstumsraten von über vier Prozent. Kein Wunder also, wenn der syrische Präsident unter der wohlhabenden städtischen Bevölkerung sich auf Unterstützer verlassen kann, abnehmend sicherlich. Mit Sicherheit haben die Rebellen der FSA (Freie Syrische Armee) keine Freunde in diesen Kreisen, die Djihadisten ohnehin nicht.
Das syrische Wirtschaftswunder kam aber nur einer relativ kleinen Wirtschaftselite in den Großstädten zugute. Den Lebensstandard der Mehrheit der Bevölkerung, besonders auf dem Land und in kleineren Städten, hatte es nicht oder nur wenig verbessert. Die Menschen litten stattdessen unter steigenden Preisen, dem Abbau der für sie überlebenswichtigen Subventionen und dem Fehlen von sozialen Sicherungssystemen. Assads Marktwirtschaft war ein Wirtschaftswunder ohne Netz und doppelten Boden. Wer fiel, fiel hart. Und es fielen viele, vielleicht sogar die Mehrheit der Syrer. Kein Wunder also, dass die Proteste gegen Assad auf dem Land begannen, das zudem noch unter einer jahrlangen Dürre litt, die eine enorme Landflucht in die Ränder der Großstädte ausgelöst hatte. Diese Landflucht hat mit dazu beigetragen, dass die Jugendarbeitslosigkeit in den letzten Jahren dramatisch gestiegen war. Fast jeder dritte Jugendliche hat keinen Job oder einen, der zu schlecht bezahlt wird, um eine eigene Familie gründen zu können. Und selbst wenn es einmal mehr Geld gab, dann fraß die Inflation diese Gehaltserhöhungen sofort wieder auf. Kein Wunder also, dass es die Jugendlichen waren, die 2011 als erste auf die Straßen gingen.
Bis März 2011 hatten die Geheimdienste die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung außerhalb der großen Städte oder in deren trostlosen Vorstädten mit Plattenbausiedlungen noch eindämmen können. Selbst im Januar 2011, als in Tunis der erste Diktator schon gestürzt war und in Kairo der Tahrirplatz Mubarak immer mehr in Bedrängnis brachte, rühmte sich in Damaskus Assad noch, er habe alles im Griff. In einem Interview mit dem Wallstreet Journal sagte er am 31. Januar 2011:
Armut in Syrien
In Syrien herrscht eine extrem ungleiche Einkommensverteilung, trotz einer Wachstumsrate der Wirtschaftsleistung von etwa vier Prozent vor Beginn der Aufstände.
Rund 13 Prozent der 22,5 Millionen Syrer leben unter der Armutsgrenze; dieser Anteil hat in den letzten Jahren zugenommen. 2006 waren es noch 11,9 Prozent. 2007 waren es schon 12,7 Prozent. Nach der Definition der Weltbank lebt jemand unter der Armutsgrenze, wenn ihm pro Tag nur ein Dollar zur Verfügung steht. Anderen Definitionen zufolge leben Menschen unter der Armutsgrenze, wenn sie ihren täglichen Bedarf an Nahrungsmitteln nicht decken können.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2007 des UNDP, dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, sind 33,6 Prozent der syrischen Bevölkerung notleidend. Ein Drittel aller Syrer lebten dementsprechend entweder unter oder am Rande der Armutsgrenze.
Durch die Dauerdürre der letzten sieben Jahre sind bis Ausbruch der Aufstände mindestens 300 000 Menschen aus dem Norden nach Damaskus und in andere Städte geflohen. Die wirtschaftliche Lage auf dem Land war schon seit Jahren deutlich prekärer als in den Großstädten.
Über 75,3 Prozent der Einwohner Syriens sind unter 35 Jahre alt. Die Arbeitslosigkeit unter den Jugendlichen und jungen Familienvätern vor Ausbruch der Aufstände beträgt etwa 20 Prozent. Die Arbeitslosenquote insgesamt wurde 2011 auf 12,3 % geschätzt. In der arabischen Welt ist die Jugendarbeitslosigkeit höher als in anderen Weltregionen.
»Wir haben größere Schwierigkeiten als die meisten anderen arabischen Staaten. Aber Syrien ist stabil. Warum? Wir haben engen Kontakt zur Bevölkerung. Wir wissen, was die Menschen denken und fühlen.«
Schon anderthalb Monate nach diesem Interview brachen die Aufstände aus, zunächst als friedliche Demonstrationen. Ein besseres Leben forderten die Demonstranten, Respekt und Würde, außerdem politische Beteiligung. Auf Befehl Assads, der angeblich so genau weiß, was die Syrer denken und fühlen, versuchte die Armee die Demonstrationen mit Waffengewalt zu zerschlagen. Vom ersten Tag an gab es Tote. Diese
Weitere Kostenlose Bücher