Brennpunkt Nahost
Alawiten kein Pardon. Schließlich hätte diese Minderheit – etwa zwölf Prozent aller Syrer sind Alawiten – alle wichtigen Stellen im Staat besetzt: Offiziere, Bürgermeister, Beamte, alle seien Alawiten. Alawiten seien Menschen, die gewohnt sind, Befehle zu geben, so die Erfahrung von Anwar mit ihnen:
»Und wir müssen gehorchen.« Er ist der festen Überzeugung: »Alle Alawiten sind korrupt. Alle sind reich, weil sie uns das Geld abgenommen haben. Wenn wir etwas von ihnen wollen, dann müssen wir sie bezahlen.«
Als ich ihm von meinem Besuch in den Bergen von Latakia erzähle, von den kleinen ärmlichen Dörfern, von den alawitischen Bauern, die dort leben, mehr schlecht als recht, von den nicht sehr fruchtbaren Feldern, starrt er mich ungläubig an. Davon hatte keiner im Raum bislang etwas gehört. Arme Alawiten? Und das in Assads Syrien? Für ihn kaum vorstellbar.
Auch der Djihadist schüttelt den Kopf. Er will es nicht glauben, weiß er doch gar nicht, ob er mir überhaupt trauen kann, schließlich bin ich in seinen Augen ein Ungläubiger. Anwar wirkt nachdenklich. Unser Fahrer meint:
»Vielleicht sind ja nicht alle Alawiten so, wie wir das meinen.«
Dann kommt der Tee. Anwars kleiner Bruder verteilt ihn.
»Ein oder zwei Löffel Zucker?« Der Djihadist lässt sich vier in das kleine Teeglas füllen. Dann sagt er: »Das kann nicht stimmen. Die Alawiten sind unsere Feinde wie alle Schiiten. Sie müssen sterben.«
»Und die Christen? Immerhin ist jeder zehnte Syrer ein Christ.«
Der Djihadist lacht: »Keine Sorge, die schicken wir in den Libanon. Zufrieden?«
Einigen im Raum scheint das Thema peinlich zu sein. So redet man nicht mit Gästen!
Schließlich widerspricht Anwar energisch: »Die haben eine Buchreligion. Du weißt, was über die Christen im Koran steht. Die Christen können bleiben.«
Der Ahrar-al-Shams-Mann schüttelt nur den Kopf und nippt an seinem Tee.
Dann verlegene Stille. Die Wasserbohrer vor dem Haus sind nicht mehr zu hören, sie haben offensichtlich für heute ihre Suche eingestellt, nur der Stromgenerator rattert vor sich hin.
DAMASKUS, Assad-Land, SOMMER 2012
Der Stadtteil Bab Tuma gehört mit zum Schönsten, das die Altstadt von Damaskus zu bieten hat. Benannt nach einem der sieben mittelalterlichen Tore der Stadtmauer, die einst ganz Damaskus umschlossen hatte. Die meisten Gassen so schmal, dass die Fußgänger zur Seite springen müssen, wenn ein Auto durchfahren will. In den Geschäftsstraßen reiht sich ein kleiner Laden an den nächsten. Die massiven Steinhäuser sind oft mehrere hundert Jahre alt. Die den Gassen zugewandten Fassaden wirken eher abweisend mit ihren schmalen Fenstern und Maschrabien, und die Türen sind fest verrammelt. Das Leben der Menschen in den Häusern spielt sich in den mit Blumen üppig geschmückten Innenhöfen ab. Wie in der arabischen Welt üblich, ist das Private auch hier streng von dem Öffentlichen getrennt.
Hier gibt es die besten Restaurants von Damaskus. Libanesisches Bier oder Wein? – kein Problem. Die Geschäfte sind in Bab Tuma freitags geöffnet, schließen dafür am Sonntag. Denn fast alle Bewohner dieses Viertels sind Christen, die meisten tiefgläubig, auch wenn junge Frauen sich gerne in den Gassen von Bab Tuma in engen Jeans, mit offenem Haar und rot geschminkten Lippen zeigen. Im Kern sind die christlichen Syrer genauso streng konservativ wie ihre muslimischen Nachbarn im nächsten Viertel. Man bleibt lieber unter sich. Das soziale Netzwerk solcher Stadtteile sorgt einerseits für Sicherheit, gleichzeitig aber auch für eine engmaschige soziale Kontrolle und zwingt zu Wohlverhalten. Eines der großen Tabus in allen arabischen Gesellschaften hat auch die säkulare Ideologie der syrischen Baathpartei nicht brechen können: es ist nach wie vor nahezu ein Ding der Unmöglichkeit, dass eine Christin einen Muslim heiratet oder ein Christ eine Muslima. Die Religionen in Syrien grenzen sich lieber gegeneinander ab.
Christliche Kirchen in Syrien
Griechisch-Orthodox
545 250 Mitglieder
Armenisch-Orthodox
342 123 Mitglieder
Römisch-Katholisch
180 372 Mitglieder
Syrisch-Orthodox
166 029 Mitglieder
Syrisch-Katholisch
62 148 Mitglieder
Armenisch-Katholisch
61 900 Mitglieder
Maronitisch
57 873 Mitglieder
Protestantisch
37 605 Mitglieder
Assyrisch
35 280 Mitglieder
Lateinisch
21 237 Mitglieder
Chaldäisch-Katholisch
17 169 Mitglieder
Gesamt
1 526 997 Mitglieder
(zitiert nach: Syrien – Der schwierige Weg in die Freiheit, Dietz-Verlag,
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