Brennpunkt Nahost
2012)
An den Sonntagen sind die Kirchen voll, oder besser gesagt, sie waren es; denn auch in Syrien hat ein Exodus der Christen begonnen und droht sich zu einer Auswanderungswelle aufzubauen, auch wenn die Priester der verschiedenen christlichen Kirchen versuchen, ihre Gläubigen im Land zu halten: »Standhalten, nicht flüchten. Das ist unsere Aufgabe und unser Ziel«, sagte mir ein Priester nach einem Sonntagsgottesdienst. Doch je länger der Krieg dauert, desto nervöser werden die Christen. Jeder fünfte soll schon ausgewandert sein. Sie haben Angst vor der Zukunft, Angst vor einer »Nacht der langen Messer«, Angst vor einem islamistischen Staat, angeführt von syrischen Muslimbrüdern oder gar den Djihadisten.
Ein Beispiel – unser Besuch in der Mariamia-Kathedrale in Damaskus. Sonntagsgottesdienst der griechisch-orthodoxen Gemeinde. Diese Glaubensgemeinschaft ist die größte unter den elf christlichen Konfessionen im Land. Die meisten Gläubigen gehören zum Mittelstand des Landes und sind als Angehörige einer religiösen Minderheit in Syrien eher dem Regime Assads zugeneigt als den Aufständischen. Artikel 35 der syrischen Verfassung garan tiert allen Religionen Glaubensfreiheit. Der Staat ist verpflichtet, sämtliche Bekenntnisse zu respektieren. Auch die Ideologie der herrschenden Baathpartei gibt sich religionsfern, behauptet tolerant zu sein und allen Religionen einen sicheren Hafen zu bieten. Christen genießen jedenfalls Religionsfreiheit, wenn auch nur in den Grenzen der sehr eingeschränkten Meinungsfreiheit. Beten ja! Kritisieren nein! Wenn sie aber ihre Loyalität beweisen, dann können sie Kirchen bauen, ihre Festtage feiern, gelegentlich nimmt der Staatspräsident sogar an Weihnachts- oder Ostergottesdiensten teil. Deswegen fühlen sich die Kirchen bislang gut aufgehoben in Assads Syrien und wollen daran möglichst wenig geändert sehen. Die Propaganda der Regierung fällt bei ihnen auf besonders fruchtbaren Boden.
Monsignore Elias Toumeh, Weihbischof in Wadi al-Nasara, Homs
Müssen Christen in Syrien Angst haben, weil sie Christen sind?
In friedlichen Zeiten nicht.
Und jetzt?
Jetzt ja! Angst. Wir sind sehr empfindliche Bürger. Wir fühlten uns immer als Fremde im eigenen Land. Erst in den letzten Jahren haben wir uns als gleichwertige Bürger gefühlt, nachdem Assad unseren Rechtsstatus verbessert hatte. Jetzt haben wir Angst, wieder alles zu verlieren.«
Und der Preis war die Anlehnung an Assad damals?
Nein, es gibt keine Anlehnung an Assad. Die Hälfte meiner Gemeinde ist gegen Assad. Und das sagen sie auch in der Kirche. Nur wer Gewalt anwendet, hat in Syrien etwas zu fürchten. Wer seine Meinung mit Liebe sagt, hat nichts zu fürchten.
Als was sehen Sie die Aufständischen heute?
Sie sehen hier im Westen nur den Diktator. Wir aber haben verschiedene Situationen bei uns. Ich habe schon im ersten Jahr des Aufstandes in Latakia erlebt, dass Frauen zu mir kamen, weil sunnitische Taxifahrer sie belästigt hatten. »Sie haben uns gesagt, jetzt müsst ihr auch bald Kopftuch tragen«, erzählten mir die Frauen. Sie waren sehr beunruhigt. Oder Kinder bedrohten sie mit Spielzeugpistolen, weil sie Christen sind. All das hatte es früher nicht gegeben. Die Christen sind sehr empfindlich. Wir hatten einen Schirm, der uns beschützt hatte. Der ist jetzt weg.
Aber es war der Schutzschirm einer Diktatur!
Und wenn die andere Seite siegt, dann haben wir eine theokratische Diktatur.
Das Interview führte der Autor am 12. Juni 2013 in Loccum
Michel Kilo über die zivile Opposition und die Perspektiven nach Assad
Quelle: 8. Oktober 2012 von ADOPT A REVOLUTION
Harald Etzbach, Redakteur der Sozialistischen Zeitung (SoZ) sprach mit ihm Ende August:
SoZ: Mitte Juli wurden bei einem Anschlag auf das Zentrum der Nationalen Sicherheitsbehörde in Damaskus vier enge Vertraute von Präsident Assad getötet. Die Folge war eine Eskalation der Auseinandersetzungen. Wie hat sich seither das Verhältnis zwischen militärischem und zivilem Widerstand in Syrien verändert?
Nach diesem Angriff hat das Regime einen umfassenden Krieg gegen alle Teile des Landes begonnen. Ich glaube, das Regime hat Angst vor einer Spaltung innerhalb seiner eigenen Anhängerschaft und hat verstanden, dass die Krise viel größer geworden ist, als es zunächst glaubte. Das Regime bombardiert Dörfer, Schulen, Straßen, Moscheen usw. mit Waffen, die dazu dienen, große Gebiete dem Erdboden gleichzumachen. Das ist jetzt der dritte
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