Brennpunkt Nahost
Rebellen, von der türkischen Regierung geduldet, von der türkischen Geheimpolizei hingenommen, sogar gefördert. In Camps trainieren die Aufständischen ihre Kämpfer. Durch die Türkei werden Waffen für die Aufständischen in den Norden Syriens geschmuggelt. Auch dies mit Wissen der türkischen Regierung und geduldet von der türkischen Geheimpolizei und dem Militär. In der Südtürkei erholen sich Kämpfer von der Front, Ärzte wie Dr. Ammar verbringen hier ein paar Tage, ehe sie wieder in den Krieg zurückkehren, um in Aleppo drei Wochen lang am Stück zu operieren. Schwierigkeiten die Grenze zu überqueren hat keiner von ihnen. Wer als Ausländer die Rebellen in Azaz oder Aleppo besuchen will, bekommt von den Türken in Killis oder einer anderen Grenzstation einen Ausreisestempel und fährt nach Syrien weiter. Den syrischen Ausreisestempel erkennen die türkischen Grenzbeamten bei der Rückkehr an, so als sei der Norden schon ein richtiger Staat.
Die Türkei ist aber auch Gastgeber für hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien, die zusammengepfercht in für Beobachter verschlossenen Lagern leben. Und die Türkei ist neben Jordanien das Land, das am meisten Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. Über 400 000 sind es mit Sicherheit Mitte 2013, und täglich kommen neue hinzu. Trotz dieser wachsenden Belastung hat das türkische Parlament 2013 per Gesetz den Status der Flüchtlinge erheblich verbessert. Waren sie davor höchstens nahezu rechtlose »Gäste«, haben sie seit der Verabschiedung des Gesetzes zum Beispiel das Recht, gegen geplante Abschiebung Einspruch zu erheben. Auch dürfen sie nicht mehr in die Länder abgeschoben werden, in denen sie Folter oder Verfolgung erwartet. Die syrischen Flüchtlinge können also sicher sein, dass sie vorläufig nicht in ihre Heimat zurückgeschickt werden.
Die Südtürkei ist aber auch Ziel von Angriffen der Assadtruppen. Egal ob von diesen gewollt oder auch nicht gewollt, kommt es an der Grenze derart häufig zu Schusswechseln, dass Erdogan die Stationierung von Panzertruppen und Flugzeugstaffeln anordnete. Als die syrische Flugabwehr einen türkischen Phantomkampfbomber abgeschossen hatte, standen die beiden Länder am Rande eines Krieges. Die NATO entschied, sein Mitglied Türkei zu unterstützen und Luftabwehrraketen zu stationieren. 2013 entsandten die Bundesrepublik und die Niederlande Einheiten mit Patriot-Luftabwehrsystemen, allerdings in sicherer Entfernung von der türkisch-syrischen Grenze.
Die Südtürkei war aber auch Ziel von Anschlägen. Zum Beispiel das Blutbad von Reyhanli. Am 11. Mai 2013 explodierten in dem kleinen Städtchen in der Südtürkei mehrere Autobomben. Mitten in der Stadt in der Nähe des Rathauses und in der Nähe der Post. Am helllichten Tag. 51 Menschen kamen ums Leben, 140 wurden verletzt. Wer dahintersteckt, ist immer noch unklar. Der syrische Geheimdienst war es, behaupten die türkischen Behörden. Türkische Hacker wollen Computer des Geheimdienstes geknackt und dabei festgestellt haben, dass tatsächlich die Al-Qaida nahe Al-Nusra-Front hinter den Anschlägen steckt. Wer es auch immer war, feststeht: Das NATO-Mitglied Türkei verstrickt sich immer tiefer in den Wahnsinn des syrischen Kriegs.
Wie kam es zu dieser 180-Grad-Wende zwischen der Türkei und Syrien? Was brachte Erdogan dazu, Assad die Freundschaft aufzukündigen?
Hatte Erdogan bis 2011 noch eine Politik verfolgt, die sich am besten mit dem Prinzip ›Möglichst keine Probleme mit dem Nachbarn‹ umschreiben lässt, hatte die Türkei nach dem Bruch so ziemlich alle Probleme dieses Bürgerkrieges auf sich geladen, außerdem noch zusätzlich viele Probleme mit Nachbarn wie dem Iran.
Erdogan hatte bis Mitte 2011 versucht, Baschar al-Assad in aller Freundschaft zu nachhaltigen Reformschritten zu überreden, war aber trotz Bodrumer Badespaß auf taube Ohren gestoßen. Der hatte stattdessen auf immer mehr Gewalt gegen die eigene Bevölkerung gesetzt. Flüchtlinge aus Syrien drängten über die Grenze in die Türkei, die große Mehrheit waren Sunniten wie die meisten Türken. Auch Erdogans AKP steht für eine sunnitische Ausrichtung der türkischen Politik. Außerdem zeichnete sich in anderen Ländern des »arabischen Frühlings« 2012 immer mehr ab, dass die sunnitischen Muslimbrüder aus der Illegalität direkt in die Präsidentenpaläste durchmarschieren werden, so in Ägypten, so in Tunesien. Für den Islamisten Erdogan und seine Türkei eine einmalige Chance, sich
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